Im Schutz der Schatten: Roman (German Edition)
Sie nahm die beiden Tüten vom Rücksitz. Die Papiertüte war so voll gewesen, dass sie für das Sixpack noch eine Plastiktüte hatte nehmen müssen. Die Tüten in beiden Händen schloss Irene die Autotür mit der Hüfte.
Ein paar Parkbuchten entfernt fiel ihr ein großer weißer Mercedes-Lieferwagen mit getönten Scheiben ins Auge. Sie konnte nicht erkennen, ob jemand darin saß. Die Seiten waren nicht beschriftet, und sie hatte den Wagen auch noch nie gesehen. Ein weißer Lieferwagen, wie es ihn zu Tausenden auf Göteborgs Straßen gab. Vielleicht hätte sie unter normalen Umständen keinen Gedanken daran verschwendet, aber jetzt war das anders. Sie und ihre Familie wurden bedroht. Und dieser Wagen fiel in der alltäglichen Reihenhaussiedlung auf. Sollte sie ihn näher ansehen? Oder schnell wieder in ihren Wagen steigen und davonfahren?
Ehe sie mit ihren Überlegungen noch am Ende war, wurden Fahrer- und Beifahrertür des Wagens geöffnet. Der dunkel gekleidete Fahrer kam auf sie zu. Trotz seiner Größe und seines kräftigen Körperbaus bewegte er sich schnell. Gleichzeitig hörte Irene schwere, rennende Schritte von der anderen Seite des Lieferwagens. Aus einem Reflex heraus trat sie einen Schritt beiseite und ließ die Papiertüte mit den Lebensmitteln, die sie in der Linken hielt, fallen und bewegte die Plastiktüte mit dem Sixpack hinter ihren Rücken. Der große Mann hielt inne, als er sah, wie Irene die Tüte durch die Luft schwang. Ehe er noch begriff, was los war, trat Irene einen Schritt vor und schleuderte ihm die Tüte entgegen. Sie traf ihn mitten im Gesicht. Lautlos ging er zu Boden. Irene sah, dass Blut aus seiner Stirn troff. Er versuchte es sich unbeholfen aus dem Auge zu wischen, aber es floss nur noch mehr nach. Treffer!, dachte Irene noch, da tauchte der andere Angreifer auf. Er war etwas kleiner als sein Kumpan, aber bedeutend muskulöser. Sein Kopf war rasiert, und auch er trug dunkle Kleidung. Als er seinen Kumpan auf der Erde sitzen sah, hielt er inne und sah ihn einen Augenblick verunsichert an. Dann stieß er ein unartikuliertes Knurren aus und nahm direkten Kurs auf Irene. In der Hand hielt er einen länglichen Gegenstand, den Irene für ein Messer hielt. Sie hatten also vorgehabt, sie mit Gewalt in den Lieferwagen zu zwingen. Eine eiskalte Wut stieg in Irene auf. Aber sie blockierte sie nicht, sondern schärfte ihre Sinne. Sie wusste genau, was sie zu tun hatte.
Als der Mann nur noch wenige Schritte von ihr entfernt war, reckte sie sich und begann aus vollem Hals zu schreien. Gleichzeitig schlug sie mit beiden Armen um sich, wie eine Volltrunkene, der plötzlich nach Boxen zumute ist. Sie machte einen raschen Schritt auf ihn zu. Wie erwartet hielt er einen Moment inne und betrachtete verblüfft ihr verzerrtes Gesicht und die fuchtelnden Arme. Blitzschnell zog Irene ihr rechtes Bein an die Brust, sammelte sich kurz und trat dem Mann mit voller Kraft gegen das Knie. Nicht ganz die Wucht eines Pferdetritts, aber fast. Ein unangenehmes Geräusch wie von splitterndem trockenem Holz war zu hören. Die Kniescheibe wurde zwischen die Knorpel und die Bänder des bis dahin, aber von nun an nie wieder intakten Kniegelenks gedrückt. Es würde für immer steif bleiben. Mit einem fürchterlichen Schrei kippte der Mann zur Seite und fuchtelte dabei mit seinem Messer in der Luft herum. Irene tat einen schnellen Schritt zurück und zog ihr Handy aus der Jackentasche. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass jemand auf sie zulief. Als sie sich umdrehte, erkannte sie Tommy.
»Irene! Was zum Teufel ist los? Bist du verletzt?«, rief er.
»Ich nicht, aber diese beiden«, keuchte sie.
Das war vermutlich dem mentalen Stress zuzuschreiben. Der Angriff war vorüber, noch ehe er richtig begonnen hatte. Auch Tommy zog sein Handy hervor. Er hielt es mit beiden Händen und richtete es auf die beiden Männer, die sich vor Schmerzen auf der Erde wanden.
»Polizei! Liegen bleiben!«, schrie er.
Die Männer machten keinerlei Anstalten, sich zu erheben. Im Halbdunkel konnten sie nicht erkennen, ob er mit einer richtigen Pistole auf sie zielte, aber Irene hatte das Gefühl, dass die beiden Männer ohnehin wussten, dass Tommy und sie Polizisten waren. Tommy hätte sehr wohl bewaffnet sein können, obwohl schwedische Polizisten in ihrer Freizeit nur äußerst selten Waffen trugen. Im Gegensatz zu unseren amerikanischen Kollegen schlafen wir nicht mit der Pistole unter dem Kopfkissen, dachte Irene.
Ohne Protest ließ der
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