Im Sog der Angst
okay aus, alle sagen mir dauernd, ich wäre okay, aber ich weiß, dass ich nicht okay bin.‹ Dann hielt er inne, seine Brust hob und senkte sich, und er war rot geworden, und als er das nächste Mal sprach, tat er das so leise, dass ich ihn kaum verstehen konnte. Was er sagte, war: ›Es ist wie in einem dieser Androidenfilme. Ich bin nicht mehr ich selbst; ich stecke zwar noch immer in meiner blechernen Hülle, aber jemand hat die Schaltkreise durcheinander gebracht.‹ Dann sagte er: ›Ich wäre wirklich gern wieder ich selbst!‹ Und schließlich weinte er. Ich dachte, es wäre ein Durchbruch, aber in der folgenden Woche sagte er seinen Termin ab, und den danach ebenfalls. Ich hab ihn seitdem nur noch einmal gesehen, und während dieser Sitzung war es, als wäre nichts geschehen. Alles, worüber er reden wollte, waren Autos und Sport. Es war, als würden wir noch einmal von vorne beginnen. Aber so kann’s gehen mit jungen Männern.«
»Hat er über sein Privatleben geredet?«
»Meinen Sie Freundinnen?«
»Ja.«
»Es hatte eine Freundin gegeben, ein Mädchen, das er aus der High School kannte. Aber das war vorbei.«
»Wegen des Unfalls?«
»Das wäre meine Vermutung.«
»War Gavin zurückhaltend, was seine äußeren Lebensumstände anging?«
»Sehr zurückhaltend.«
»Hat er irgendwelche anderen Mädchen erwähnt?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, sich ein Bild des Mädchens anzusehen, das mit ihm getötet wurde? Es ist ein Foto aus der Gerichtsmedizin.«
Sie erschauderte. »Ich sehe nicht, was das bringen soll.«
»Kein Problem.«
»Nein, im Grunde können Sie es mir auch zeigen«, sagte sie. »Ich muss all dieses Unglück in mich aufnehmen.«
Ich legte das Foto des toten Mädchens auf die Glasplatte. Sie versuchte nicht, es zu berühren, sondern starrte es nur an. Ihr Mund verlor seine Entschlossenheit. Eine Ader pulsierte an ihrer Schläfe. Ein rascher Pulsschlag.
»Kennen Sie sie?«, fragte ich.
»Ich habe sie nie im Leben gesehen. Ich stelle es mir nur vor, wie es für die beiden gewesen sein muss.«
7
Mary Lou Koppel begleitete mich durch ihr Wartezimmer und sah zu, wie ich die Treppe hinunterging. Als ich stehen blieb, um einen Blick zurückzuwerfen, lächelte sie und winkte mir zu.
Zu Hause hörte ich meine Nachrichten ab. Drei lästige Anrufe und Allison, die mir mitteilte, dass einer ihrer Patienten abgesagt hätte, wir seit langem nicht mehr im Kino gewesen wären, und ob ich heute Abend Zeit hätte. Ich rief in ihrer Praxis an und ließ ausrichten, wie es mit einem Abendessen davor wäre, ich könne um sieben bei ihr sein.
Dann fuhr ich den Computer hoch, loggte mich in meinem MEDLINE-Konto an der Uni ein und rief Artikel über Stirnlappen-Verletzungen bei geschlossenem Schädel auf. Bei einem schweren Gehirntrauma zeigten sich Blutungen und Verletzungen auf Röntgenbildern und bei Computertomographien. Aber in weniger dramatischen Fällen war der Schaden minimal und unsichtbar, das Ergebnis von etwas, das in der Fachliteratur als axonal shearing bezeichnet wird - mikroskopische Risse in Nervenfasern. Diese Fälle lassen sich durch neurologische Tests nicht nachweisen und werden am besten durch eine neuropsychologische Untersuchung diagnostiziert. Mithilfe von Instrumenten wie dem Wisconsin-Card-Sort-Test oder dem Rey-Osterrieth-Complex-Figure-Test kann man Probleme in Bereichen wie Informationsverarbeitung, Aufmerksamkeit und Denken herausarbeiten.
Patienten mit präfrontalen Verletzungen hatten manchmal Schwierigkeiten damit, ihre Wut im Zaum zu halten. Außerdem konnten sie zu Impulsivität und zwanghaftem Verhalten neigen.
Ich druckte ein paar Artikel aus, zog mir eine kurze Hose, ein T-Shirt und Turnschuhe an und machte einen harten Dauerlauf, weil ich nicht über das kurze, traurige Leben von Gavin Quick nachdenken wollte. Ich dachte trotzdem daran und konzentrierte mich darauf, an meinem eigenen Leben Gefallen zu finden. Nachdem ich geduscht hatte, versuchte ich Milo im Revier zu erreichen. Als ich ihn an seinem Autotelefon erwischte, hatte ich das Gespräch mit Mary Lou Koppel in seinen Kontext eingeordnet.
Sie hatte kooperiert, aber mir eigentlich nicht viel erzählt. Vielleicht wusste sie nicht viel. Gavins Therapie hatte drei Monate gedauert, und ich vermutete, dass er viele Termine nicht wahrgenommen hatte. Wenn man außerdem seinen Widerstand in Rechnung stellte und die Tatsache, dass Koppel seine kognitiven Probleme nicht zur Kenntnis
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