Im Sog der Angst
möchten?«
Rodriguez stieß ein tabakhaltiges Lachen aus. »In diesem Geschäft? Alle meine Dachdecker sind Knastbrüder, und eine Menge der anderen Handwerker ebenfalls.«
»Nichols ist kein Knastbruder.«
»Knastbruder, potenzieller Knastbruder, wo ist da der Unterschied? Jeder bekommt eine zweite Chance. Das ist es, was dieses Land groß macht.«
»Macht Nichols auf Sie den Eindruck eines potenziellen Knackis?«
»Ich halte mich aus ihrem Privatleben raus«, sagte Rodriguez. »Erster Schritt, sie tanzen an, zweiter Schritt, sie machen ihren verdammten Job. Wenn das ein paar von ihnen einigermaßen regelmäßig bringen, bin ich ein glücklicher Mann.«
»Ist Nichols zuverlässig?«
»Er ist tatsächlich einer von den Guten. Er ist immer auf die Minute genau hier - eigentlich ein bisschen tuntig.«
»Tuntig«, sagte Milo.
»Tuntig«, wiederholte Rodriguez. »Wie in kleinlich, pingelig, zimperlich. Alles muss ganz genau so und nicht anders sein, er erinnert mich an meine Frau.«
»Inwiefern pingelig?«
»Er will, dass seine Lunchbox nicht mit Staub in Berührung kommt, kriegt einen Anfall, wenn Kerle sein Werkzeug durcheinander bringen oder nicht rechtzeitig antanzen. Bei jeder Änderung der Routine kriegt er einen Anfall. Er legt sein Jackett zusammen, Herrgott noch mal.«
»Ein Perfektionist.«
»Was haben Sie an ihm auszusetzen?«
»Noch nichts.«
»Ich hoffe, es bleibt dabei«, sagte Rodriguez. »Er tanzt an, macht den verdammten Job.«
Roy Nichols war eins neunzig, wog locker hundertzehn Kilo, hatte einen harten, vorspringenden Bauch, Arme wie Mehlsäcke und Oberschenkel wie Baumstämme. Der Schädel unter seinem Schutzhelm war glatt rasiert. Die Stoppeln, die sein Gesicht bedeckten, waren so blond wie seine Augenbrauen. Er trug ein schweißdurchtränktes erdfarbenes T-Shirt unter einem blauen Jeansoverall und auf seinem rechten Bizeps eine tätowierte Rose. Sein Gesicht war rechteckig und sonnenverbrannt, lief unten in einem Doppelkinn aus und war von tiefen Falten durchzogen, die ihn älter aussehen ließen als seine dreißig Jahre.
Rodriguez zeigte auf uns, und Nichols ließ ihn stehen und stapfte in unsere Richtung.
»Gong zur Runde eins«, murmelte Milo.
Nichols kam bei uns an und sagte: »Polizei? Worum geht’s?« Seine Stimme war dünn und erschreckend hoch. Ich war sicher, dass viele Anrufer darum gebeten hatten, mit seiner Mutter sprechen zu dürfen. Ich war sicher, dass Roy Nichols sich nie daran gewöhnt hatte.
Milo hielt ihm die Hand hin.
Nichols zeigte uns eine staubige Handfläche, murmelte: »Dreckig« und ließ sie wieder sinken. »Was wollen Sie?«
»Über Flora Newsome reden.«
» Jetzt? Ich bin am Arbeiten.«
»Nur ein paar Minuten, Mr. Nichols. Wir würden es zu schätzen wissen.«
»Über was ?« Eine Röte stieg von Nichols’ Stiernacken bis zu seinen Wangen.
»Wir nehmen uns den Fall noch mal vor und reden mit jedem, der sie gekannt hat.«
»Ich hab sie allerdings gekannt, aber ich weiß nicht, wer sie getötet hat. Ich bin den ganzen Scheiß schon mit zwei anderen Cops durchgegangen - ich bin in der Arbeit, Mann, und ich werde stundenweise bezahlt. Das sind Nazis, Mann. Wenn ich zu lange auf dem Klo bleibe, ziehen sie mir das vom Lohn ab. Wenn das ein Gewerkschaftsjob wäre, könnten sie das nicht machen, aber es ist keiner, also lasst mich in Ruhe.«
»Ich mache das mit Mr. Rodriguez klar.«
»Klar«, sagte Nichols und trat mit der Schuhspitze in den Boden.
»Nur ein paar Minuten.«
Nichols fluchte leise. »Dann gehen wir wenigstens aus der Scheißsonne.«
Wir gingen zu einer Ecke der Baustelle in den Schatten zweier tragbarer Toiletten. Die Chemikalien hatten versagt, und der Gestank war heftig.
Nichols blähte seine Nasenlöcher. »Hier stinkt’s. Passt ja prima. Das ist alles Scheiße.«
»Sie regen sich ziemlich leicht auf«, sagte Milo.
»Das würden Sie auch, wenn Ihre Zeit Geld wäre und jemand sie verschwendet.« Nichols klappte den Lederdeckel seiner Armbanduhr auf und warf einen Blick aufs Zifferblatt. »Die ersten Cops haben ganze Tage mit mir verbracht, Mann. Was für’n Theater. Ich wusste sofort, dass sie mich in Verdacht hatten, weil sie so mit mir rumgespielt haben.«
»Rumgespielt?«
»Der eine ist nett, der andere ein Arschloch. Ein Mann und eine Frau. Er hat so getan, als wäre er der Nette. Ich hab genug ferngesehen, um zu wissen, was gespielt wurde.« Er fuhr mit einer Hand über seinen kahl rasierten Schädel. »Und jetzt
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