Im Sog der Angst
Ihr Assistent, Arnold Mattingly, ein schwerer Mann mit einem grauen Schnurrbart, kam aus dem Haus und sagte: »Cho meint, sie gehört dir, Milo.«
Milo runzelte die Stirn. »Sie ist gegangen?«
»Sie hat mehr zu tun, als wir je haben werden«, erwiderte Mattingly. »Jede Menge Leichen stapeln sich bei ihr in der Halle.«
»Hat sie dir irgendwelche vorläufigen Erkenntnisse mitgeteilt?«
»Sieht so aus, als wäre ihr mit einem Brieföffner in die Brust gestochen und in den Kopf geschossen worden. Ich weiß, dass du gern dein eigenes Leichendiagramm zeichnest, aber wenn du eine Kopie von meinem haben willst, mache ich dir eine.«
»Danke, Arnie. Was kam zuerst, der Stich oder der Schuss?«
»Da bin ich überfragt, und Cho redet heute nicht viel.« Mattingly legte seine hohle Hand an den Mund, redete aber mit normaler Lautstärke weiter. »Ihr Mann hat sie verlassen.«
»Wie schade«, erwiderte Milo.
»Nette Frau«, sagte Mattingly. »Ist sie wirklich. Aber wenn du meine Meinung hören willst: Es war viel Blut in der Umgebung der Stichwunde. Reichlich, wie man so sagt. Und nur ein kleines Rinnsal an der Schusswunde, mehr Plasma als das rote Zeug.«
»Ihr Herz hat heftig gepumpt, als sie erstochen wurde.«
»Darauf würde ich wetten«, sagte Mattingly.
»Kleinkalibrige Waffe?«
»Sieht so aus. Koppel ist doch diese Psychologin, oder?«
»Kennst du sie, Arnie?«
»Meine Frau hört ihr zu, wenn sie im Radio auftritt. Sie sagt, Koppel verkörperte den gesunden Menschenverstand. Ich sage, wenn sie so vernünftig ist, wieso tritt sie dann in diesen Talkshows auf?« Er schüttelte den Kopf. »Meine Frau wird der Schlag treffen, wenn sie das hört - ich darf’s ihr doch sagen, oder?«
»Tu dir keinen Zwang an«, entgegnete Milo. »Ruf meinetwegen die Fernsehsender an. Irgendwelche anderen Ideen?«
»Was ist los?«, fragte Mattingly. »Ist heute der Tag der Ratespiele?«
»Heute ist ein Scheißtag. Ich höre mir gern Vorschläge an.«
»Ein bescheidener Staatsbeamter wie ich.« Mattingly kratzte sich am Kopf. »Ich würde annehmen, es hat mit ihrem Beruf zu tun. Vielleicht ist sie irgendeinem Verrückten auf den großen Zeh getreten.« Er schien zum ersten Mal meine Anwesenheit zu bemerken. »Ergibt das einen Sinn, Doc?«
»Völlig.«
Mattingly grinste. »Das ist es, was ich an meinem Job liebe. Ich tue Dinge, die einen Sinn ergeben. Und wenn ich nach Hause komme, bin ich ein Idiot.« Er sammelte sein Werkzeug ein und ging.
»Ruf die Fernsehsender an«, sagte ich. »Vielleicht ist das der Aufhänger, den du brauchst.«
Die Leute von der Spurensicherung brauchten eine Weile, bis sie das Haus nach Finger- und Schuhabdrücken, nach Blut oder anderen Körperflüssigkeiten, nach Anzeichen für gewaltsames Eindringen oder einen Kampf durchsucht hatten.
Keine Fingerabdrücke auf dem Brieföffner. Nichts anderweitig Aufschlussreiches, wenn man von dem offenkundigen Umstand absah, dass der antike Brieföffner mit dem Knochengriff und der Klinge aus Sterlingsilber vom Schreibtisch in Mary Lous Arbeitszimmer stammte.
Als das Haus leer war, begann Milo mit dem erniedrigenden Rumstöbern, dem Mordopfer gemeinhin unterzogen werden.
In Koppels Arzneischränkchen im Badezimmer fanden sich außer den üblichen Toilettenartikeln Antibabypillen, ein Diaphragma und Kondome (»umsichtige Frau«), freiverkäufliche Antiallergika, eine Salbe gegen Pilzinfektionen, Tylenol, Advil, Peptobismol und Ärztemuster der Schlaftablette Ambien.
»All diese Ratschläge für alle anderen, und sie leidet an Schlafstörungen«, sagte Milo. »Ein schlechtes Gewissen?«
Ich zuckte mit den Achseln.
Ihr Schlafzimmer war ein behaglicher Raum mit abgerundeten Ecken, eine Studie in Salbeigrün und Lachsrosa. Die Steppdecke über dem Bett war straff gespannt, der Raum perfekt eingerichtet.
Milo durchwühlte einen Kleiderschrank voller Rot und Schwarz. In Kommodenschubladen fand er Schlafanzüge und Nachthemden, die von normalen Flanellsachen bis hin zu knappen Teilen aus dem Hustler Emporium reichten. Er hielt einen Slip ouvert aus Leopardenimitat hoch.
»So was kauft man nicht für sich. Wer wohl ihr Liebhaber gewesen sein mag?«
Unten in der Schublade mit der Unterwäsche fand er einen silbernen Vibrator in einem Samtbeutel.
»Alle Arten von Liebe«, murmelte er.
Ich hatte Mary Lou Koppel nicht gemocht, aber die Archäologie ihres Lebens ans Tageslicht zu holen fand ich deprimierend.
Wir verließen das Schlafzimmer und gingen wieder in
Weitere Kostenlose Bücher