Im Sog der Gefahr
»Zu dieser Jahreszeit ist es hier unten sehr ruhig, was für meine Zwecke ideal ist.«
Plötzlich empfand Holly die Stille und Einsamkeit als bedrückend. Sie hatte einen taktischen Fehler begangen. Winslow, Malone und Chastain führten Tür-zu-Tür-Befragungen durch. Staff Sergeant Furlong und Corporal Rachel Messenger waren unterwegs zu einem Gespräch mit der indianischen Gemeinde, die sich südlich der Fundstelle des Wracks befand.
Der Professor legte den Finger an die Lippen und drängte sie, hineinzugehen.
Der kalte Luftzug in ihrem Rücken war ihr weitaus angenehmer als das Unbehagen darüber, mit diesem exzentrischen Mann allein zu sein. Sie machte ihren Taser bereit und legte die Hand an die Waffe. Weil sie nicht damit gerechnet hatte, das Hauptgebäude zu verlassen, hatte sie den Kollegen ihren Standort nicht durchgegeben. Ihr Blick fiel auf das schüttere Haar am Hinterkopf des Professors. Mit dem würde sie schon fertigwerden.
Sie stiegen einige Stufen hinauf. Es stank nach Desinfektionsmittel und Salzwasser, und an sämtlichen Wänden warnten Gefahrenschilder vor Chemikalien und Strahlung.
»Hier drin.« Das Leuchten in seinen Augen grenzte an Wahn. Der Kerl sah sie an, als wäre sie seine verschollene Tochter oder, noch schlimmer, seine auferstandene Frau, die gerade ihrem Grab entstiegen war.
Sie machte sich bereit, ihm fünfzigtausend Volt in den Körper zu jagen.
»Gehen Sie weiter.« Sie ruckte mit dem Kinn, um ihm zu signalisieren, dass er vorausgehen sollte. Fast rechnete sie damit, dass Finn Carver aus den Schatten springen und sie zu Boden reißen würde. All ihre Sinne waren aufs Äußerste gespannt, ihr Herzschlag ging unregelmäßig. Sie achtete darauf, dass sie einen sicheren Stand hatte, und nahm ihre Kräfte zusammen. Sollte er es nur versuchen.
Der Professor ging auf ein Aquarium zu. »Sie dürfen noch niemandem etwas davon verraten«, bat er sie eindringlich, als hätte sie auch nur eine blasse Ahnung, wovon er sprach.
Er trat näher an das Aquarium heran und schaltete eine Lampe ein. Langsam erwachte das Becken zum Leben, und Holly entdeckte einige ungewöhnliche Kreaturen, die im Wasser umherschwammen. Sie waren schwarz mit gelben Flecken und einem violetten Rand.
»Wunderschön, nicht wahr? Wir haben sie schon bei unserem ersten Tauchgang entdeckt, aber ich musste im Labor erst die richtigen Bedingungen schaffen, bevor ich es wagen konnte, sie an die Oberfläche zu bringen.«
»Meeresnacktschnecken?« Sie versuchte, sich ihre Skepsis nicht anmerken zu lassen.
»Eine bisher unentdeckte Art von Nacktkeimern.« Er strahlte.
»
Das
ist Ihr Schatz?« Das Herz hämmerte so laut in ihren Ohren, dass sie sich wie eine verdammte Idiotin vorkam.
Er nickte. »Wie Sie sehen, ist dieser Schatz für niemanden von finanziellem Wert. Und wir hatten ganz gewiss keinen Anlass, jemandem davon zu erzählen.«
Verdammt!
Das klang logisch. Oder es war ein verflucht guter Trick, denn sie selbst hätte die Meeresnacktschnecken nicht von anderen unterscheiden können. Sie würde das nachprüfen. »Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben, Professor.«
»Es war mir ein Vergnügen, Sergeant Rudd.« Und wieder glitt sein Blick über ihr Gesicht wie die Fühler einer Kakerlake. »Werden Sie die Ermittlungen zum Mord an meiner Frau wiederaufnehmen?«
Der Kerl war hartnäckig, das musste sie ihm lassen. »Wenn ich Zeit habe, werde ich die Akten noch einmal durchgehen, um zu sehen, ob es Parallelen gibt. Allerdings bezweifle ich, dass wir darin etwas finden.«
Er packte sie am Arm, seine Fingernägel bohrten sich durch den Jackenärmel in ihre Haut. »Sind Sie denn überhaupt nicht neugierig?« Eine undefinierbare Leidenschaft brannte in seinen Augen.
Sie machte sich von ihm los und sah davon ab, ihn wegen tätlichen Angriffs auf eine Polizistin festzunehmen.
In erster Linie empfand sie Mitleid. »Ich werde mir den Fall ansehen, aber nach so langer Zeit ist die Chance, den Mord an ihrer Frau aufzuklären, extrem gering.«
Trauer schwamm in seinen blutunterlaufenen Augen.
»Es tut mir leid.« Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging davon. Es gefiel ihr nicht, verunsichert und aus dem Tritt gebracht zu werden. Auf diese Art lösten Polizisten keine Fälle. Das Geräusch herzzerreißenden Leids verfolgte sie, als sie die Treppen hinunterging und aus der Tür trat.
Finn saß im Dunkeln und nahm sich ein kühles Blondes zur Brust. Seine ganze Aufmerksamkeit galt der Frau, die gerade die
Weitere Kostenlose Bücher