Im Sog der Gefahr
ihrem Sessel zurück. Diesem Mann Informationen zu entlocken kam einer Partie Schach gleich. Er verbarg etwas vor ihr. »Es gibt Vorschriften für das Bergen von Schätzen. Haben Sie deshalb niemandem etwas davon erzählt? Haben Sie gegen das Gesetz verstoßen und machen sich jetzt Sorgen, dass sie deswegen verhaftet werden und vielleicht Ihren Job verlieren könnten? Der Schatz ist mir egal, Thom. Mir geht es nur darum, wie dieser Mann gestorben ist.«
Sein Gesichtsausdruck war beinahe mitleidig. »Es ist nicht das, was Sie denken.«
Während sie stirnrunzelnd auf ihren Notizblock blickte, musste sie sich zur Geduld zwingen. »Was denke ich denn?«
»Dass Finn und ich dort unten Gold oder kostbare Edelsteine gefunden haben. Dass uns da unten vielleicht jemand begegnet ist und wir ihn umgebracht haben, um unseren Schatz zu schützen. Aber ich kann Ihnen versichern, dass
das
nicht passiert ist.«
Der Tote war nicht erst gestern umgebracht worden, also hatten sie ihn nicht bei diesem Tauchgang getötet. Der Gerichtsmediziner ging davon aus, dass der Mann seit mindestens fünf Tagen tot war.
»Die Unterwasserbergungsmannschaft hat keinen Schatz gefunden, Thom. Was ist damit passiert?«
»Was dem einen seine Nachtigall, ist dem anderen …«, wieder machte er eine irritierende Pause, »… Müll. Wir haben niemandem davon erzählt, weil ich nicht wollte, dass im Wrack alles aufgewirbelt wird.« Tiefe Besorgnis zeigte sich in seiner Miene. »Womöglich ist der bisher angerichtete Schaden bereits irreversibel.«
»Für den Toten auf jeden Fall.«
»Wie alt sind Sie?«
Sie runzelte die Stirn. »Ich gebe keine persönlichen Daten heraus.«
»Zweiunddreißig?«
Sie fuhr zusammen. Das war nur ein Glückstreffer. »Haben Sie auf dem Weg zu ihrem Tauchplatz jemanden gesehen?«
Thoms Blick wanderte nach rechts oben, als würde er etwas in seiner Erinnerung suchen. »In einiger Entfernung haben wir ein paar Boote gesehen. An Land und in der Bucht aber niemanden.«
»Und Sie sind sicher, dass Sie niemandem von dem Wrack erzählt haben?«
»Absolut sicher.«
»Was ist mit Mr Carver? Hat er es irgendjemandem erzählt?«
»Finn hätte nicht gewollt, dass unerfahrene Taucher auf das Wrack aufmerksam werden. Dass er Sie mit hinuntergenommen hat, ist übrigens ein ziemlich großes Kompliment. Wie lange tauchen Sie schon?«
Sie gab es auf, ihm klarmachen zu wollen, dass ihr Privatleben ihn nichts anging. »Sie und Carver scheinen sich sehr nahezustehen.«
»Ja, wir stehen uns ›nahe‹.« Aus seinem Mund klang das Wort irgendwie falsch. »Ich habe ihn zu mir genommen, nachdem sein Vater umgebracht worden war.«
Umgebracht?
Sie hatte so viele Fragen, aber sie musste beim Thema bleiben und herausfinden, was die Männer unten im Wrack gefunden hatten. »Warum haben Sie ihn bei sich aufgenommen?«
»Er hatte sonst niemanden. Und ich hatte Platz.« Sein Lachen klang freudlos.
Sie brauchte eine ganze Menge mehr Informationen, als sie bisher hatte sammeln können. Über Edgefield, über Carver. Ersterer war ein bedeutender, wenn auch exzentrischer Wissenschaftler, Letzterer war beim Militär gewesen und nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Viel mehr wusste sie bis jetzt nicht, aber sie hatte eine gründliche Hintergrundprüfung für die beiden veranlasst. »Erzählen Sie mir von diesem Schatz.«
»Da weiß ich etwas Besseres.« Ein Lächeln hellte sein Gesicht auf, als er aufstand und nach einem Anorak griff. »Ich zeige es Ihnen.«
Holly zog ihre dunkelblaue Dienstjacke über und folgte ihm zur Tür. Erneut sah die Sekretärin sie mit großen Augen an, bevor sie Thom mitteilte, dass sie für heute Schluss machte. Menschen kamen und gingen und starrten Holly neugierig an, während sie dem Direktor folgte, tausend Stufen hinunterstieg und schließlich eine Tür aufstieß, wo sie von einem frischen Wind erfasst wurde, der von der Meerenge heranwehte. Sie sah zur Station der Küstenwache auf der anderen Seite des Meeresarms hinüber. Im Wipfel einer gewaltigen Kiefer saß ein Weißkopfseeadler und starrte aufs Meer hinaus. Es war noch hell, aber am Horizont ging bereits die Sonne unter. Thom führte sie noch weitere Stufen hinunter, bis sie ganz unten am Wasser ankamen. Er gab einen Code ein und betrat ein modernes, quadratisches Gebäude. Keine Menschenseele war zu sehen.
Der Innenraum war schwach beleuchtet und bis auf das Brummen von Geräten im Hintergrund vollkommen still. Der Professor legte die Lichtschalter um.
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