Im Sog der Gefahr
Erinnerungen eine Verbindung zwischen ihnen schufen. Sie brauchten es nicht auszusprechen; sie hatten gute und schlechte Zeiten durchlebt und sich immer aufeinander verlassen. Und dann hatte Finn sie im Stich gelassen.
»Du hattest diesen Professorenarsch, der sich um dich gekümmert hat. Für dich ist am Ende alles gut ausgegangen.« Brent klang höhnisch und verbittert, genau wie ihr alter Herr. Von Anfang an war seine Abneigung gegen Thom greifbar gewesen, aber Finn wusste nicht, ob es daran lag, dass Thom ihm das Leben ermöglicht hatte, nach dem sie sich beide gesehnt hatten, oder ob Brent den Mann einfach nicht mochte.
»Er hat mir das Lesen beigebracht.« Wegen seiner Legasthenie war Finn in der Schule ein beliebtes Opfer für Schikanen gewesen. Brent hatte versucht, ihm zu helfen, obwohl er selbst kaum besser hatte lesen können. Finn bezweifelte, dass sich das im Gefängnis gebessert hatte.
»Und ich habe für dich getötet. Was bist du doch für ein Glückspilz.«
»Glück?« Seine Stimme brach, als die alten Schamgefühle wieder in ihm aufwallten.
Endlich drangen die Gefühle seines Bruders durch die harte Schale des Exhäftlings; Brent atmete tief aus. »Du warst noch ein Kind. Ich wollte nicht, dass du ins Gefängnis kommst und diesen ganzen … Dreck und die Abscheulichkeit siehst. Und als ich rauskam, warst du schon in der Army. Und als du zurückkamst …« Sein Bruder schluckte hörbar. »Ich bin kein guter Umgang, Finn.«
Finn trat einen Schritt auf ihn zu.
»Wenn du näher kommst, schieß ich dir den Kopf weg.«
Finns Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, und über dem Wasser war der Mond aufgegangen. Das Gesicht seines Bruders war von Falten des Alters und der Erfahrung gezeichnet. Hager und zäh. Geliebt und vertraut.
»Du würdest nicht auf mich schießen.«
Rechts neben ihm bohrte sich eine Kugel in den Boden.
»Ich bin nicht mehr der dumme Arsch, der dich vor diesem Scheißer beschützt hat. Ich will dich hier nicht sehen.« Nicht der Zorn, sondern die Verzweiflung in diesen Worten ließ Finn zurückweichen.
Er schluckte die Rasierklingen in seiner Kehle hinunter. »Ich brauche keinen Schutz. Jetzt nicht mehr.«
Der raue Atem beruhigte sich. »Gut.« Die Zigarette hüpfte, als er ausatmete und dabei nickte. »Gut.«
»Letzte Nacht habe ich in einem Wrack am Crow Point eine Leiche gefunden.«
Brent stieß ein höhnisches Lachen aus. »Hätte ich wissen müssen.«
»Was hättest du wissen müssen?«
»Dass du nur gekommen bist, weil du etwas willst.«
»Du hast gerade auf mich geschossen, was ziemlich genau die Begrüßung war, die ich erwartet hatte. Weißt du irgendwas über den Toten oder nicht?« Brent hatte Kontakte zur Unterwelt, außerdem hatte er laut Gina im Laufe der Jahre so viele Todesdrohungen erhalten, dass er ein Auge auf alles hatte, was auf dieser Insel vorging, ob es nun kriminell war oder legal.
»Ich habe in letzter Zeit niemanden umgebracht, wenn es das ist, was du wissen willst.« Wild blitzten seine Zähne auf. »Vor ein paar Tagen bekam ich einen Anruf. Jemand wollte wissen, ob mich ein Kerl namens Len Milbank besucht hätte.«
Scheiße!
Es gefiel Finn ganz und gar nicht, in welche Richtung das hier lief. »Und?«
Unter schweren Lidern sah sein Bruder ihn an. »Du weißt, für wen er arbeitet?«
Finn nickte. Len Milbank arbeitete als Schläger für Remy Dryzek, einen miesen Typen, der von Port Alberni aus Drogen und Alkohol vertrieb – und alles, was sonst noch irgendwie Geld einbrachte. Außerdem war Milbank Finns Topkandidat für die Person, die Thom vor zwei Jahren fast zu Brei geschlagen hatte.
»Hab den Mistkerl seit Monaten nicht mehr gesehen. Als Len das letzte Mal vorbeigekommen ist, hab ich ihm den Arm gebrochen.«
»Höflichkeitsbesuch?«
Brent verzog die Lippen zu einem schiefen Lächeln. »Na ja, Kaffee und Kuchen gab’s nicht.« Seine Miene wurde wieder ausdruckslos.
»Hast du was von einem gesunkenen Schiff draußen am Crow Point gehört?«
»Ich habe nichts von gar nichts gehört.«
Und wenn doch, würde er es nicht sagen. Während Finn den Mond betrachtete, dachte er daran zurück, wie er ihn als Kind immer angestarrt hatte. Diese riesige Silberscheibe über der mitternächtlichen See. So oft hatte er sich als verängstigter kleiner Junge vorgestellt, einfach ins Meer zu gehen. Ihn hatte Brent gerettet, aber Brent selbst war von niemandem gerettet worden.
»Die Bullen sind im Dorf und stellen Fragen.«
Brent
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