Im Sog der Sinnlichkeit
Spazierstock, der ihr das Gehen erleichterte, und öffnete die Tür, während sie befürchtete, ihm zu begegnen. Sie war nicht sicher, ob sie ihre eisige Ruhe bewahren könnte, wenn sie ihn noch einmal sehen würde mit seinen dunkelgrünen Augen, kühl und abschätzend, und seinem schönen, markanten verschlossenen Gesicht.
Jemand wartete auf sie, und sie zuckte erschrocken zusammen, bevor sie Rohans Butler erkannte. „Mylady“, grüßte er höflich und unsagbar gütig. „Ich habe den Wagen am Seiteneingang vorfahren lassen, damit Sie mit Ihrem verletzten Knöchel nicht weit gehen müssen.“
„Sehr aufmerksam.“ Es dauerte einen Moment, bis sie sich seines Namens entsann. „Danke, Richmond“, fügte sie lächelnd hinzu.
„Es ist mir eine Ehre, Mylady. Darf ich Ihnen meinen Arm anbieten?“
Sie nahm ihn an. Sie wollte seine Stütze nicht, wollte seine Güte nicht, aber ihr blieb keine andere Wahl. Langsam ging sie an seiner Seite die Treppe hinunter; der stechende Schmerz in ihrem Knöchel lenkte sie kurz von dem dumpfen Schmerz in ihrem Herzen ab. Als Richmond ihr in Rohans Karosse half, hatte sie sich die Lippen blutig gebissen, um ihre Tränen zurückzudrängen, ihre Stirn glänzte schweißnass. Sie war eine Idiotin gewesen, wie immer. Wäre sie nur zu Hause geblieben, wie Rohan es befohlen hatte, dann wäre das alles nie geschehen! Sie wäre zufrieden in ihrer Unkenntnis von Lust und Begierde und könnte an Rohan denken als einen lästigen, wenn auch attraktiven Stachel in ihrem Fleisch.
Sie hielt sich kerzengerade auf der kurzen Fahrt zur King Street und wies den Kutscher an, sie am Hintereingang zum Garten abzusetzen, um die zwölf Marmorstufen zum Hauptportal zu umgehen. Der Diener half ihr mit großer Umsicht beim Aussteigen, weit sorgsamer, als Rohan es je getan hätte. Sie humpelte über die Terrasse und stieß die Glastüren auf, die in den Salon führten, der nun als Nähzimmer eingerichtet war. Es war sehr still im Haus, die Mädchen schliefen noch keusch in ihren Betten, während sie eine Nacht in ausschweifender Wollust zugebracht hatte.
Sie wollte die Mädchen nicht mehr als Gänschen bezeichnen; er hatte sie so genannt, und er war ein für alle Mal aus ihrem Leben gestrichen. Sie humpelte in die große Eingangshalle und blickte die endlos lange Treppe hinauf.
Sie wusste, das schaffte sie nicht. Sie begab sich in den vorderen Salon, wo zwei Schreibtische für Emma und sie standen, ließ sich in den Sessel fallen und schloss die Augen. Es war ein stiller schöner Frühlingstag, und sie würde heute ein neues Leben beginnen. Ein herrlicher Morgen. Sie war glücklich über den Ausgang ihres kleinen Experiments. Wie gut, dass Rohan so rasch das Interesse an ihr verloren hatte, nachdem er ihr eine Nacht glühender Leidenschaft beschert hatte.
Das Leben konnte nicht besser sein!
„Weinen Sie, Miss?“, piepste ein dünnes ängstliches Stimmchen irgendwo aus der Nähe des erloschenen Kamins. Melisande gab einen erstickten Laut von sich, als eine kleine, in eine Decke gewickelte Gestalt sich aus dem Schatten löste. Es dauerte einen Moment, bis sie durch den Schleier ihrer strömenden Tränen Betseys Gesicht erkannte, das sorgenvoll zu ihr aufblickte.
Melisandes Stimme gehorchte ihr im ersten Moment nicht. Sie räusperte sich, bis sie so etwas wie einen Plauderton zustande brachte. „Mein Knöchel schmerzt, Betsey.“
„Ach so, Miss.“
Das Kind erwies sich als bemerkenswert halsstarrig, wenn es um höfliche Formen der Anrede ging. Melisande schärfte ihr immer wieder ein: „Mylady“ für eine Dame von Adel, „Miss“ für eine bürgerliche unverheiratete Frau. Und eine Miss war Melisande auf keinen Fall. Aber Betsey beharrte eigensinnig darauf, vielleicht weil sie von einer Miss vor langer Zeit zum ersten Mal ein wenig Trost und Zuwendung bekommen hatte.
Melisande wischte sich hastig die Tränen von den Wangen. „Wieso bist du schon so früh auf, Betsey?“
Betsey trat näher ans Licht, und Melisande sah, dass die Kleine auch geweint hatte, und ihr Herz zog sich zusammen. „Ich konnte nicht schlafen, Miss. Und wenn ich nicht schlafen kann, nehme ich mir eine Decke und lege mich hier unten hin. Damit Aileen mich gleich findet, wenn sie wiederkommt.“
Es kostete Melisande enorme Kraft, nicht gleich erneut loszuweinen. Aileen würde nicht zurückkommen, dessen war sie sich absolut sicher. Ob die Wüstlinge des Satanischen Bundes sie getötet hatten oder ob Aileen einfach
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