Im Sommer der Sturme
Schlaganfall, oder was auch immer es war, hat Vater und Sohn gleichermaßen getroffen. Frederic war einst ein starker, kraftvoller Mann, doch heute verlässt er seinen Besitz nicht mehr. John leidet ebenso wie sein Vater. Er ist vor drei Jahren von den Inseln geflüchtet und seitdem nicht mehr zurückgekehrt. Soweit ich weiß, hat er keinen Kontakt zu seinem Vater, auch wenn er weiterhin für alle geschäftlichen Belange in Virginia und für den Frachtverkehr von und nach Richmond verantwortlich ist. Frederics anderer Sohn Paul wurde mit den Geschäften auf Les Charmantes betraut, was in der Folge leider neue Probleme aufgeworfen hat.«
»Wie soll ich das verstehen?«, fragte Joshua gespannt.
»Die Brüder haben unterschiedliche Ansichten. Zuweilen handeln sie sogar völlig entgegengesetzt und muten ihren Mitarbeitern damit eine Menge zu. Auf einem Schiff kann es jedoch nur einen Kapitän geben, wenn es nicht untergehen soll.«
»Demnach wetteifern die Söhne sozusagen um die Vorherrschaft?«
»Dieser Streit reicht bereits bis in die Kindheit der Jungen zurück. Paul verbindet ein enges Band mit seinem Vater, was John als gesetzlichem Erben nie vergönnt war.«
»Weshalb gesetzlich?«
Kapitän Wilkinson räusperte sich. Er hatte zu viel ge redet. Doch diesen Punkt musste er genauer erklären. »Frederic hat Paul als kleines Kind adoptiert und wie einen eigenen Sohn großgezogen, obgleich Paul außerehelich geboren wurde. Aber Paul ist Frederics Sohn«, fügte er schnell hinzu, um der nächsten Frage zuvorzukommen. »Dessen bin ich sicher.«
»Aber weshalb sollte ein Mann seinen Bastard dem ehelich geborenen Erben vorziehen …«
Der ungehörige Ausdruck war Mr. Harrington schneller entwischt, als er sich beherrschen konnte. Er errötete und sah zu Charmaine hinüber, doch sie sah so freundlich drein wie immer. Offenbar hatte sie ihn nicht verstanden.
Der Kapitän war mit Mr. Harringtons Vorwurf ganz und gar nicht einverstanden. »Frederic Duvoisin respektiert seine beiden Söhne gleichermaßen. Doch Paul arbeitet härter als sein Bruder, was meiner Meinung nach auch die engere Beziehung zwischen Vater und Sohn erklärt.«
Joshua Harrington kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. »Und Johns Mutter? Wie steht sie zu dem Ganzen?«
»Elizabeth Duvoisin ist vor mehr als fünfundzwanzig Jahren im Kindbett gestorben. Einige sagen, dass Frederic John für ihren Tod verantwortlich macht, aber das ist Unsinn. Diese Gerüchte wurden von der Tatsache genährt, dass Frederic viele Jahre lang um seine Frau getrauert hat.«
Inzwischen verstand Charmaine nichts mehr. »Aber ich dachte …« Sie unterbrach sich. »Demnach ist Colette Duvoisin also seine zweite Frau?«
»Ja. Frederic Duvoisin hat vor zehn Jahren zum zweiten Mal geheiratet«, antwortete der Kapitän fast barsch.
Dass Frederic viele Jahre lang um seine Frau getrauert hat …
Verwirrt senkte Charmaine den Kopf. Sie spürte, dass der Kapitän ihr auswich, aber den Grund dafür konnte sie nicht benennen. Frederic Duvoisin war also ein älterer Mann mit zwei erwachsenen Söhnen, die von seiner ersten Frau und von seiner Geliebten stammten. Darüber hinaus hatte er noch drei weitere Kinder von seiner zweiten Frau, von denen das Kleinste noch ein Baby war.
»Stammt sie von den Inseln?«, fragte Charmaine.
»Wer? Miss Colette? Himmel, nein!« Der Kapitän lachte in sich hinein. »Miss Colette ist Französin. Eine waschechte Aristokratin. Soweit ich weiß, hat ihre Mutter diese Ehe eingefädelt«, fügte er hinzu. Doch als er Charmaines gerunzelte Stirn sah, wurde ihm unbehaglich. Am liebsten wäre er den heiklen Fragen ausgewichen, die nun auf ihn zukamen.
»Ihre Mutter?«
»Colette war damals noch sehr jung.«
»Wie jung?«
Im Lauf der letzten Stunde war Jonah Wilkinson immer gesprächiger geworden, doch plötzlich gab er nur noch einsilbige Antworten. Und zu Charmaines Verzweiflung schlug sich auch noch Mr. Harrington auf seine Seite. »Derartige Arrangements waren in besseren Kreisen schon immer üblich, nicht wahr?«
»So ist es«, pflichtete ihm der Kapitän eilig bei.
Trotz der heißen Sonne erschauerte Charmaine. Sie war immer der Meinung gewesen, dass die Reichen unbegrenzte Freiheiten genossen. Doch wie es schien, lebte hier auf der Insel eine junge Frau wie sie, deren Freiheit beschränkter war, als ihre es jemals sein würde.
»Ein Arrangement?« Charmaine überlegte. »Gefangenschaft wäre eigentlich das passendere
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