Im Sommer sterben (German Edition)
schriftlich und beim Abteilungsleiter Ausbildung!«, rief Eschenbach noch hinterher, bevor die Türe leise ins Schloss fiel.
Einen Moment lehnte sich der Kommissar zurück, faltete die Hände im Nacken und dachte darüber nach, ob er es Jagmetti nicht doch hätte sagen sollen. Er war kein misstrauischer Mensch, im Gegenteil. Die Achtung voreinander und das gegenseitige Vertrauen waren die wichtigsten Grundlagen erfolgreicher Polizeiarbeit. Es waren seine Grundsätze; Ideale, an die er glaubte und die er auf jedem Polizeilehrgang aufs Neue predigte. Und doch, er hatte anders entschieden. Contre cœur , was ihm nicht leicht gefallen war.
»Der letzte Satz war zu viel.« Es war Rosa Mazzolenis Stimme, die aus der Gegensprechanlage schepperte.
»Welcher Satz?«, murrte Eschenbach, obwohl er wusste, was sie meinte.
»Tun Sie nicht so, Chef.« Sie machte eine kurze Pause. »Dass er kündigen solle, und das noch bei Sepp Kohler! Der ist so blöd und nimmt die Kündigung an.«
»Glaube ich nicht.«
»Moment.« Im Hintergrund klingelte das Telefon; dann knackte es im Lautsprecher, und der Ton war weg.
Eschenbach sah auf die Uhr und wollte gerade aufstehen, als Rosa ins Büro trat.
»Es war nur ein kurzer Anruf«, sagte sie beschwingt.
»Und?«
»Privat, nichts Wichtiges.« Sie lächelte. Der Hosenanzug in blassem Rosa stand ihr fabelhaft, und das kurze, schwarze Haar war streng nach hinten gekämmt – mit viel Gel gebändigt.
»Sie machen Ihrem Namen alle Ehre«, sagte der Kommissar und deutete mit einer eleganten Geste auf den freien Stuhl gegenüber.
Sie blieb stehen. »Ich wollte nur sagen … wegen vorhin. Nicht dass Sie meinen, ich belausche Sie.«
»Da wäre ich nie darauf gekommen.« Eschenbach lachte schallend.
Die Verhaftung von Doris Hottiger war zum Medienereignis geworden, dafür hatte Eschenbach gesorgt. Die Festnahme in Paris, die zweiwöchige Auslieferungshaft im Flughafengefängnis Charles de Gaulle und dann die Überführung in die Schweiz mit dem Linienflug der Air France; Ankunft am 12. September, morgens um halb zehn in Zürich-Kloten.
Schweizer Staatsbürger, die man auf diese Weise – und in den seltensten Fällen geschah das freiwillig – in ihre Heimat zurückführte, wurden direkt im Untersuchungsgefängnis beim Zürcher Flughafen einquartiert. Dort blieben sie dann bis zur Eröffnung des Prozesses. In der Regel ein Jahr – selten länger als zwei Jahre. Gleichzeitig saßen dort auch Menschen, deren Heimat die Schweiz nicht war. Sie waren in der Überzahl und warteten, bis man sie wieder dorthin zurückbrachte, woher sie kamen, wo sie aber nicht mehr hinwollten.
Dass man Doris Hottiger nicht im Flughafengefängnis untergebracht hatte, lag einzig daran, dass es dort keine Zellen für Frauen gab. Also brachte man sie ins Bezirksgefängnis Dielsdorf, in eine kleine Zelle im Westteil des Gebäudes.
Der Fall Philipp Bettlach wurde Kapitel für Kapitel aufgerollt. Der Stoff aus kranker sexueller Neigung und Rache, in einer gesellschaftlich angesehenen Familie, war wie geschaffen für die farbigen Gazetten des Boulevards, und Doris Hottiger wurde zum zweiten Mal in ihrem jungen Leben gegen ihren Willen ein Star der Medien: hübsch, blond, mit dem Finger am Abzug.
Ein kurzer Ausschnitt aus einem der Videos wurde gezeigt, Interviews wurden geführt; allerdings mit Opfern, die nichts mit dem Fall zu tun hatten. Doris wurde zur Rächerin einer scheinbaren Mehrheit tragisch Betroffener. Die Berichte über sie wurden Bestandteil täglicher Nachrichten wie das Wetter oder die Krise am Gaza-Streifen.
Das Bezirksgefängnis Dielsdorf, in dem Doris zwölf Quadratmeter bewohnte, war bald in aller Munde und genoss einen Bekanntheitsgrad, der sonst nur dem Bundeshaus zuteil wurde.
Die Aufseherin Martha Imhof, die seit siebzehn Jahren in Dielsdorf die Türen auf- und zuschloss, erlitt wenig überraschend einen Nervenzusammenbruch. Aufgrund einer unbedachten Äußerung ihrerseits hatte das auflagenstärkste Blatt im Land aus der überzeugten Christin einen kaltherzigen Wachhund gemacht. Der aufgewiegelte Volkszorn war zu viel gewesen für die stämmige Frau Ende fünfzig; gerade für sie, die alles nur deshalb tat, weil es ihr Job war, weil alles in der Bibel stand und weil Schuld und Sühne ihre eigentlichen Maßstäbe waren.
Eschenbach saß in seinem Büro und ging die Presseberichte durch. Sein Plan war gewesen, mit Hilfe der Medien Druck zu machen. Druck auf Doris und – sollte sie es
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