Im Sommer sterben (German Edition)
denen er Doris besucht hatte, war ihm aufgefallen, dass sie abgenommen hatte. Es war nicht das Abnehmen, das einem gut stand und für das man sich gelegentlich mit Salaten abquälte. Es war so gänzlich anders; als hätte ein fahles Grau ihren Mund um die Sinnlichkeit betrogen. Die Backenknochen standen stärker hervor als früher und hatten den Wangen ihren Platz genommen.
Es sind die Farben, dachte er. Genauso war es bei seinem Vater gewesen, der vor vier Jahren an Magenkrebs gestorben war. Während er auf der N1 nur schrittweise vorwärts kam, gingen ihm die Besuche im Paracelsus-Spital in Richterswil durch den Kopf: die gutmütigen braunen Augen des alten Herrn, der bis zum Schluss an das Leben glaubte, und die Witze, die sie gemacht hatten, um vom Sterben abzulenken.
Über eine Stunde lang stand Eschenbach im Stau. Mit offenen Fenstern schlich er quer durch die halbe Stadt in Richtung Westen. Als er sich in die Langstraße einfädelte, hatte Daniel Barenboim die zweite und vierte Symphonie von Beethoven durch, und da er nur die beiden Musikkassetten besaß, überlegte er, welche von beiden er nochmals hören wollte. Er ließ es schließlich beim Radio; dort diskutierten ausgewählte Gäste das Neubauprojekt Hardturm . Groß und teuer würde es werden – ein der Stadt würdiger Fußballtempel mit Einkaufsparadies. Der Vertreter eines lokalen Vereins drohte mit Einsprachen.
Auf der Höhe Badenerstraße bog er rechts ab und zirkelte seinen Volvo hundert Meter später um eine Traminsel herum auf die Gegenfahrbahn. Hundert Franken Bußgeld, rechnete er sich aus, dann bog er rechts in die Marta-Straße und hielt Ausschau nach einem Parkplatz. Die Hausnummer hatte ihm Rosa Mazzoleni gegeben, als er sie vom Auto aus angerufen hatte.
C. Jagmetti stand handschriftlich auf einem Stück weißem Klebeband. Eschenbach drückte die Klingel und zählte drei Stockwerke. Lift gab es keinen. Das Treppenhaus war schlecht beleuchtet und heruntergekommen. Eschenbach vermied es, sich am Geländer festzuhalten.
Die Tür stand bereits offen, als er oben ankam und nach Luft rang. »Hallo«, kam es von Claudio Jagmetti, der aus dem Innern der Wohnung auf ihn zutrat. Barfuß, mit Jeans und einem weißen T-Shirt. »Basel-Liverpool, drei zu null«, sagte er knapp und streckte die Hand aus.
Im Hintergrund flimmerte grüner Rasen auf einem kleinen Bildschirm.
»Eine halbe Stunde gespielt und schon drei Tore für Basel.« Er schien es deshalb zu wiederholen, weil er annahm, dass Eschenbach sonst die Tore auf der englischen Seite vermutet hätte. Unrecht hatte er nicht.
»Soll ich später nochmals vorbeikommen?« Der Kommissar wies mit dem Kinn in Richtung Fernsehen.
»Nein, kommen Sie nur, ich hole uns ein Bier.« Er stellte den Fernseher ab und ging in die Küche. »Ich nehme an, Corona ist okay?«, sagte er, als er mit zwei Flaschen in der Hand wieder zurück ins Wohnzimmer kam.
Eschenbach nickte; er saß bereits auf dem niedrigen Sofa, hatte sich ein Kissen in den Rücken geklemmt und streckte die Beine aus. Außer der Couch, auf der sich beide hingesetzt hatten, standen noch ein kleiner Bistrotisch aus Aluminium und zwei Stühle im Zimmer. Zwei schwarze Boxen füllten die Ecken; sie gehörten zur Stereoanlage, die auf demselben Holzmöbel stand wie der Fernseher. Die Wände waren kahl.
»Das ist ein Hammer … ich meine, wer hätte das gedacht.« Der Kommissar nickte. Er nahm an, dass sich Jagmettis Kommentar auf das Spiel bezog. Dann setzte er die Flasche an.
»Sorry, ich habe gar nicht daran gedacht. Soll ich Ihnen ein Glas holen?«
»Danke, es geht.« Eschenbach lachte und schüttelte den Kopf.
Es musste den jungen Polizisten irritiert haben, als er ihn aus der Flasche trinken sah. »Soviel ich weiß, trinkt man Corona ohne Glas.«
Die beiden Beamten saßen eine Weile schweigend nebeneinander; und weil keiner etwas sagte, nahmen sie immer wieder die Flasche an die Lippen, tranken und setzten ab.
»Noch immer abtrünnige Gedanken?« Es war Eschenbach, der den ersten Schritt tat.
»Josef Kohler hat mich in die EDV-Abteilung kommandiert … es war meine Idee.« Und nach einer kurzen Pause fügte er noch hinzu: »Die Kündigung habe ich nie geschrieben.«
»Mmhh«, grummelte Eschenbach und sog an der Flasche. »Ich weiß nicht, ob es richtig war, Ihnen nichts zu sagen … irgendwie hoffte ich, Sie kämen nochmals bei mir vorbei.« Wieder trank er einen Schluck.
»Ich dachte, es ist besser so. Der ganze
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