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Im Sommer sterben (German Edition)

Im Sommer sterben (German Edition)

Titel: Im Sommer sterben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
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fertig war, den Rest der Sauce mit einem Stück Brot zusammengenommen und das Besteck fein säuberlich nebeneinander auf den Teller gelegt hatte, war er wieder zu ganzen Sätzen bereit. Er fuhr sich mit der Serviette mehrmals über den Mund. »Ich war heute im Augeninstitut der Uni Zürich. Die haben mir alles erklärt.« Er nahm sein schwarzes Notizbuch aus der Jackentasche und blätterte. »Eine Altersabhängige Makuladegeneration, AMD, hatte man zuerst vermutet. Anscheinend recht häufig, wenn man älter wird. Meist merkt man es beim Lesen. Ein verschwommener Fleck in der Mitte des Schriftbildes oder ein grauer Schatten.«
    »Der graue Star?«, unterbrach ihn Gabriel.
    »Nein, das habe ich auch gefragt. AMD ist etwas anderes. Der Schatten wird größer und führt zu einer Verschlechterung der Sehschärfe.«
    Gabriel hielt die leere Weinflasche mit ausgestrecktem Arm vor sein Gesicht. »Kannst du das Kleingedruckte unter Gaja lesen, wenn du die Flasche so hältst?«
    »Komm, hör auf, du bist kurzsichtig – aber wer ist das nicht. Jedenfalls war es nicht AMD.« Er blätterte und suchte den Begriff, der ihm entfallen war. »Sorsby Fundusdystrophie war es.« Eschenbach seufzte. »Ich kann mir nichts mehr merken, sage ich dir. Das wird immer schlimmer.«
    »Also diesen Sorsby-Fundus … Dings, den hätte ich mir auch nicht merken können.« Gabriel zündete sich eine Zigarette an und paffte.
    »Rauchen ist ganz schlecht, hat dieser Forscher Madulain … Dr. Madulan gesagt.« Wieder der Blick ins Buch.
    »Gegen was?«, wollte Gabriel wissen.
    »Gegen alles halt.«
    »Ich inhalier gar nicht mehr«, sagte Gabriel mit dem Mund voller Rauch. »Paffe nur noch aus lauter Gewohnheit.«
    »Es ist extrem schlecht für die Augen, hat er gesagt.«
    »Dann soll ich besser inhalieren, meinst du?« Er lachte und dann hustete er.
    »Es ist nicht zum Lachen. Ich glaube, ich lasse mir mal die Augen untersuchen. Rein prophylaktisch, meine ich.« Eschenbach trank einen Schluck Wasser.
    »Und mit dem Rauchen hast du aufgehört?«, wollte Gabriel wissen. Ihm war aufgefallen, dass der Kommissar seine Zigarillos in der Tasche ließ.
    »Ich rauche weniger«, sagte Eschenbach. »Versuche es.«
    »Seit du heute in der Klinik warst … ach hör doch auf! Das legt sich. Du bekommst schon keinen solchen Fundus.«
    »Sorsby-Fundus …« Der Kommissar las seine Notizen durch. »Sorsby Fundusdystrophie – ist extrem selten und genetisch bedingt; basiert auf einer Mutation im TIMP3-Gen. Man weiß nicht viel darüber.«
    »Und dein Mörder hatte das … ich meine dieser Hottiger.«
    »Ja. Es geht sehr schnell mit der Sehschärfe; nimmt radikal ab, meist in der fünften Lebensdekade.« Und nach einer kurzen Pause fügte er noch hinzu: »Eine zufrieden stellende Therapie dagegen gibt es nicht – noch nicht.« Dann klappte er sein Notizbuch zu. Mehr hatte er nicht aufgeschrieben.
    »Ich werde nächstes Jahr fünfzig«, sagte Gabriel mehr zu sich selbst, stand auf und brachte eine Flasche Grappa mit zwei kleinen Gläsern. »Barolo Sperss; das Leben ist zu kurz für schlechte Schnäpse.«

36
    Es störte Eschenbach nicht, dass er zu wenig geschlafen hatte und verkatert war. Im Grunde genommen war es ein Zustand, mit dem er gut leben konnte, den er manchmal sogar mochte. Er stellte sich vor, dass beim Marathonlauf, nach Kilometer dreißig, ein ähnliches Gefühl einsetzte; wenn der Läufer die Beine nicht mehr spürte und alles um ihn herum an Distanz gewann.
    Zum wiederholten Mal ging er die Akte Hottiger durch, in der Hoffnung, etwas Wesentliches übersehen zu haben. Die traurige Einsamkeit seiner Jugend und der Halt, der ihm der Schießsport gegeben hatte. Die Olympischen Spiele 1960 in Rom, das Militär und dann die Karriere als Sicherheitsberater. Ein Leben im Dienste anderer, als Beschützer und Wächter. Eschenbach fragte sich, ob sich Hottiger nicht auch am Schluss vor jemand anderen gestellt, sich gewissermaßen geopfert hatte; im Wissen, dass er selbst nie mehr sehen würde? Es war eine Möglichkeit, die er auf jeden Fall weiter im Kopf behalten musste.
    Vielleicht lag es an den Fotos, die vor ihm lagen. Die olympische Flagge, vor der Hottiger posierte, mit Medaille und ohne Lachen; ernst, mit dunklen Augen und scharfem Blick. Vielleicht lag es auch nur an Eschenbachs Zustand, dass ihm der Marathonläufer Abebe Bikila in den Sinn kam; dieser schwarze Schlaks aus dem nördlichen Hochland Äthiopiens, der wie Hottiger in Rom olympisches Gold

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