Im Sommer sterben (German Edition)
doch egal sein«, sagte Jagmetti, den Eschenbachs Argumentation nicht überzeugte.
»Ernst Hottiger hat sein Leben damit verbracht, andere Leute zu beschützen. Niemals hätte er aus Leichtsinn oder Verzweiflung einen unschuldigen Menschen gefährdet. Alles, was er tat, war Teil eines Plans – auch sein Selbstmord. Er hat sich selbst in die Schusslinie gebracht; sich vor den Mörder gestellt, um ihn zu schützen.«
»Sie haben Recht. Dann muss er den Mörder gekannt haben.«
»Oder die Mörderin. Anders kann ich es mir nicht erklären.«
»Und Sie glauben, es ist Doris?«
»Die Indizien sprechen gegen sie, das ist entscheidend. Was ich glaube, ist irrelevant.«
»Und wenn sie jemanden deckt, wie ihr Ziehvater?«
»Dann ist es an ihr auszupacken.«
»Blut ist dicker als Wasser, hat sie gesagt.«
»Mit diesen Worten?«, wollte Eschenbach wissen.
»Ja. Sie hat einen völlig verschrobenen Familiensinn … und einen Vaterkomplex.«
»Ich weiß.«
»Es ist zwecklos, ich habe alles versucht. Sie schaltet auf stur und schweigt wie ein Grab.«
»Eben.«
Eine Weile saßen sie wortlos nebeneinander, starrten auf kahle weiße Wände und auf die Flimmerkiste, die Jagmetti vor einer Stunde ausgeschaltet hatte.
Eschenbach stand auf, um sich zu verabschieden. »Melden Sie sich doch mal«, sagte er. »Ich glaube, Rosa Mazzoleni vermisst Sie.«
Jagmetti brachte ihn zur Tür und drückte auf den Knopf für das Licht.
Das Treppenhaus blieb dunkel.
»Macht nichts … es geht schon«, rief der Kommissar nach den ersten zwei Tritten. Und als er auf dem ersten Zwischenboden angelangt war, fügte er noch über die Schulter hinzu: »Sie fehlen mir übrigens auch, Jagmetti!«
38
Am nächsten Morgen war nichts so wie sonst: Rosa Mazzoleni lag mit einer Magenverstimmung zu Hause, nachdem sie den Abend zuvor notfallmäßig ins Triemlispital eingeliefert werden musste. Mit Verdacht auf Salmonellen, hatte sie gesagt. Schließlich seien es aber die Muscheln gewesen, italienische cozze . Eschenbach fand, dass schon der Name alles sagte. Er wünschte gute Besserung und meinte, sie solle sich ausschlafen. Eine Viertelstunde später rief er zurück, weil er die Schlüssel zum Schrank nicht fand, und zehn Minuten später nochmals wegen der Kaffeemaschine. Ein drittes Mal mochte er sie nicht stören; auch dann nicht, als er es fertig gebracht hatte, das Band auf dem Telefonbeantworter zu löschen statt abzuhören. Missmutig verließ er das Präsidium.
Er ging die Gessnerallee hinauf bis zur Sihlbrücke und setzte sich in das kleine Café an der Ecke. Im Sommer aß er hier manchmal ein Eis, hausgemachte Stracciatella, ein Tipp von Rosa. Jetzt war es ihm zu kalt, und er entschied sich für ein Salamibrot. Er stand an einem der hohen Marmortische, kaute und sah durchs rahmenlose Fensterglas dem Verkehr zu, der vom Stauffacher in Richtung Innenstadt rollte. Es war die zweite Verkehrswelle am Morgen, kurz vor neun Uhr, bevor die großen Einkaufszentren ihre Tore öffneten und das Leben in den Straßen Zürichs erst richtig losging. Davor waren es Handwerker und Angestellte gewesen, die zwischen sechs und acht Uhr ihrer Arbeit zuflogen; meist mit dem Handy am Ohr oder – im Auto – mit Freisprechanlage ins Leere redend. Von A nach B, von Tiefgarage zu Tiefgarage. Eschenbach fragte sich manchmal, ob diese Leute ihren morgendlichen Weg auch finden würden, wenn die Straßen plötzlich frei wären und vor ihnen niemand fahren würde.
Ein Handy spielte die Pink-Panther -Melodie. Es ging eine Weile, bis der Kommissar merkte, dass es seins war und Kathrin schon wieder einen neuen Klingelton heruntergeladen hatte.
»Mit wem spreche ich bitte?« Er fragte es ein zweites Mal, nachdem er den Anrufer nicht richtig verstanden hatte. Es war ungewöhnlich, dass jemand, dessen Stimme er nicht kannte, ihn auf dem Handy anrief.
»Polizeiposten Bellevue, Korporal Schubiger.« Die Stimme klang weiblich und sehr laut.
Der Kommissar war inzwischen hinaus auf den Gehsteig geeilt, weil er glaubte, dort einen besseren Empfang zu haben.
»Spreche ich mit Kommissar Eschenbach?«, fragte die Unbekannte.
Ein Lastwagen dröhnte an ihm vorbei.
»Ja«, schrie er und hielt sich das andere Ohr zu.
»Hallo?«, dröhnte es aus dem Handy.
Eschenbach ging zurück ins Lokal an seinen Fensterplatz und schaute auf die drei kleinen Balken im Display, die einen optimalen Empfang anzeigten.
»Ja, Eschenbach hier!«, knurrte er und stopfte sich den letzten Bissen
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