Im Sommer sterben (German Edition)
erschossen.«
»Ich weiß.« Sie nickte in sich hinein, ohne Eschenbach eines einzigen Blickes zu würdigen.
Der Schießplatz Oberrieden lag quer zum Hang mit herrlichem Blick auf den Zürichsee. Ivo Fröhlich erwartete sie. Er war groß und schlank mit schlohweißem Haar. Eine gebogene Pfeife hing in seinem Mundwinkel, und die olivbraune Weste, die er offen über dem hellen Strickpullover trug, hatte ihre beste Zeit bereits hinter sich.
»Dass ich dich hier mal seh, da schneit es schon eher schwarz vom Himmel.« Er schüttelte Eschenbach mit beiden Händen. Und zu Eveline meinte er mit einem Augenzwinkern: »Was habe ich für eine Geduld gebraucht, bis der endlich was auf die Scheibe brachte. Null Talent, aber ein netter Kerl.« Dann streckte er ihr seine kräftige Hand zur Begrüßung entgegen.
Eveline musste lachen.
Den kurzen Moment nach der Begrüßung nutzte Eschenbach, nahm den alten Mann beiseite und erklärte ihm in wenigen Sätzen, um was es eigentlich ging.
»Sehr gut!«, sagte Ivo Fröhlich. »Und nun kommt endlich! Rein in die gute Stube, ich habe alles vorbereitet.«
Im Innern des Schießstandes brannte Licht aus Neonröhren, und die einzelnen Plätze waren wie in einem Pferdestall durch Holzwände voneinander getrennt. Für die Schützen lagen graue Turnmatten bereit, auf die sie sich legen konnten.
In der Wandhalterung, die für mehrere Waffen Platz bot, stand ein schwarzes Gewehr. Ivo nahm es heraus.
»Ein Schweizer Sturmgewehr 90, fünfzig Schuss, geladen und gesichert.« Er gab es Eveline, und beide sahen, dass sie das Gewicht der Waffe unterschätzt hatte. »Ich habe es auf Einzelfeuer eingestellt.«
»Ich denke, wir nehmen am besten einen der mittleren Plätze«, sagte Eschenbach ruhig und wechselte einen Blick mit Ivo Fröhlich.
Dieser brachte zwei orangefarbene Kopfhörer. »Gehörschutz für euch beide … bei mir bringt’s nichts mehr.«
Eschenbach klemmte sich das Ding um den Hals wie ein Discjockey und ging zu Eveline, um ihr zu helfen. Sie trug schwarze Jeans ohne Gürtel und helle Turnschuhe mit roten Streifen. Die Waffe stand vor ihr auf dem Boden; sie hielt den Gewehrlauf wie einen Spazierstock. Eschenbach kamen die ersten Tage seiner Rekrutenschule wieder in den Sinn, als er zum ersten Mal eine Waffe in den Händen hatte. Er schmunzelte.
»Wollen wir wirklich?«
»Ich kann das«, sagte sie und schleppte die Waffe zur Matte.
»Na gut«, brummte der Kommissar. »Wenn Sie unbedingt einmal schießen möchten …« Er nahm das Gewehr, klappte die beiden Metallstützen heraus und stellte es so hin, dass der Lauf in Richtung Scheibe zeigte. Als er merkte, dass Eveline den Hebel nicht fand, der die Waffe entsichern würde, kniete er sich neben sie hin. »Ein Auge müssen Sie zudrücken und mit dem anderen … sehen Sie hier: Kimme, Korn, Ziel. Die Scheibe dort …«, er zeigte auf das kleine, weiße Viereck dreihundert Meter weiter vorne. »Das ist das Ziel.«
Ivo Fröhlich hatte sich auf die Bank gesetzt, die etwas weiter hinten an der Wand stand. Er zog an seiner Pfeife und beobachtete, wie der Kommissar, der es selbst nicht recht konnte, zum ersten Mal in seinem Leben jemandem erklärte, wie er zu schießen hatte.
39
Der Schuss dröhnte Eschenbach in den Ohren, denn er hatte zum Schluss vergessen, sich den Gehörschutz überzustülpen. Vielleicht brauchte er deshalb einen Moment, bis er bemerkte, dass Eveline weinte. Immer noch hinter dem Sturmgewehr auf der Matte liegend, die Hände vor ihrem Gesicht. Er setzte sich neben sie, während Ivo behutsam die Waffe wegräumte.
Dass auf der Scheibe kein Einschuss zu verzeichnen war, erwähnte keiner von beiden.
Wie oft in seinem Leben waren es Situationen wie diese, Momente wortloser Hilflosigkeit, die dem Kommissar auf den Magen schlugen.
»Gehen wir etwas trinken?«, fragte er.
Sie nickte, und Ivo überbrückte das betretene Schweigen des Aufbruchs mit einem Selbstgespräch über die dringend notwendigen Reparaturen an seinem Schützenstand.
»Ich fahre euch in die Buchmühle.«
Eschenbach grummelte einen Dank im Voraus und stieg mit Eveline Marchand in den alten Land Rover von Ivo Fröhlich. Es ging ein steiles Stück den Hang hinauf und dann durch eine kurze Unterführung, über die die Autobahn in Richtung Chur hinwegdonnerte. Die schwere, graue Wolkendecke, die den ganzen Vormittag trübselig den Himmel verdunkelt hatte, zeigte blaue Risse, und das Radio spielte Ländlermusik.
»Der Vreneli-Schottisch «, sagte
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