Im Sommer sterben (German Edition)
war’s. Ich habe die Flüchtlinge mit einem Ruderboot auf die andere Seeseite gebracht. Morgens, wenn der Nebel über dem Wasser lag und man kaum seine eigene Hand vor dem Gesicht sah. Ich war’s … ich war der Geliebte meiner Mutter.«
»Philipp war Ihr Sohn …« Eschenbach wiederholte es, als könne er es besser verstehen, wenn er es selbst aussprach.
»Mein einziger Sohn, ja.« Bettlach schüttelte den Kopf, als meine er das Gegenteil. »Es sind meine gottverdammten Gene, verstehen Sie? Ich musste verhindern, dass sie sich selbstständig machten … dass es weiter und weiter ging.«
Eschenbach nickte, obwohl er nicht sicher war, ob er es verstanden hatte.
»Als sich die Katastrophe anbahnte … mit Philipp und Doris … und die ganze Geschichte drohte, sich ein zweites Mal zu wiederholen; da musste ich handeln.« Er ballte verzweifelt die Faust. »Wenn die Nadel in der Plattenrille hängen bleibt, dann muss einer aufstehen und sie rausnehmen.«
Der Kommissar erinnerte sich, dass Ernst Hottiger dasselbe gesagt hatte. »Und eine geschlossene Anstalt … ich meine, wäre das nicht auch eine Lösung gewesen?«
»Sicher. Diese ganzen Anstalten … und immer wieder hoffen und irren.« Er schüttelte den Kopf, als hätte er schon tausend Mal darüber nachgedacht. »Ich werde alt, Herr Kommissar, und wenn ich nicht mehr da bin, wer passt auf Philipp auf?«
»Wusste er, dass Sie sein Vater sind?«
»Nein, ich habe es ihm nie gesagt … auch Adele hat es für sich behalten; mit ins Grab hat sie’s genommen. Wir wollten es beide mit ins Grab nehmen. Jetzt bin ich der Einzige.«
»Und Eveline natürlich …«
»Nein! Sie wusste nichts davon.«
»Ach, wirklich?«
»Bis gestern … da habe ich ihr alles gesagt.« Eschenbach hob erstaunt die Augenbrauen.
»Auch Sie, Herr Kommissar, Sie wären ohne mich nie drauf gekommen. Aber bei Ihnen weiß ich, dass Sie es wieder vergessen werden. Es spielt keine Rolle mehr, nicht wahr?«
»Nein, jetzt nicht mehr.« Eschenbach sah in die wässerigen Augen des alten Mannes. »Und Hottiger, ich meine, hat er es gewusst?«
»Ernst? Ich nehme es an. Wir haben vieles voneinander gewusst, ohne dass wir je darüber gesprochen hätten. Ich denke, dass er an meiner Stelle dasselbe getan hätte.« Bettlach hielt einen Moment inne. »Ja, ich glaube, der Ernst wusste es.«
»Und Doris? Weiß sie …«
»Ja. Eveline und ich haben es ihr gesagt, heute Morgen. Sie weiß jetzt, dass ich ihr Vater bin … und auch der Vater von Philipp.«
»Und?«
»Nichts und. Sie muss es einfach wissen. Es ist wichtig für sie, verstehen Sie? Ich habe viel zu lange geschwiegen, es unter den Teppich gekehrt.«
»Ihre Einsicht kommt etwas spät, finden Sie nicht?«
»Vielleicht …« Eine plötzliche Leidenschaft durchfuhr den alten Mann. »Trotzdem müssen wir wissen, wer wir sind … und woher wir kommen. Es ist wichtig für unseren Geist, glauben Sie mir. Ohne Geist ist die Evolution nur ein fantasieloser Plan.«
Beide sahen sich noch einen Moment lang an, bevor der Kommissar die zwei Beamten rief, die Johannes Bettlach begleiteten. Irgendwie tat ihm der Alte Leid, wie er, nach vorne gebeugt und von Polizeibeamten gestützt, hinaustrottete. Wie ein Spieler, der ein Leben lang vergeblich versucht hatte, gegen die gezinkten Karten des Schicksals nicht zu verlieren.
Eschenbach setzte sich wieder hin, nur einen Moment, und notierte in wenigen Stichworten, was er später in den Abschlussbericht tippen würde.
»Frau Marchand wartet immer noch«, kam es von Rosa Mazzoleni vorwurfsvoll durch die Gegensprechanlage. »Kann ich sie reinschicken?«
»Ich komme gleich«, rief er und verstaute den Schreibblock in der Schublade. Als er das Fenster schließen wollte, das wegen seiner Zigarillos immer einen Spaltbreit offen stand, sah Eschenbach den Polizeiwagen aus der Ausfahrt kommen. Durch das dunkle Fenster im Fond glaubte er, die silberne Mähne von Johannes Bettlach zu erkennen. Behutsam fädelte sich der Wagen in den Straßenverkehr ein und fuhr davon.
Obwohl es nur eine kurze Strecke war vom Präsidium zum Bezirksgefängnis an der Rotwandstraße, für den alten Mann bedeutete es die Reise in eine andere Welt.
»Er wird es nicht überleben«, sagte Eveline, die plötzlich neben ihm stand. »Seine Bilder, die Musik … es wird ihm fehlen.«
»Vermutlich.«
»Die ganze Welt wird ihm fehlen.« Der Kommissar nickte.
Sie standen noch eine Weile schweigend am Fenster, sahen der
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