Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Sommer sterben (German Edition)

Im Sommer sterben (German Edition)

Titel: Im Sommer sterben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
Vom Netzwerk:
gefreut, in Ruhe die Zeitung lesen und seinen Gedanken nachhängen zu können. Dass sich kurz nach Chur eine ältere, mollige Dame mit Riesenbusen und auffallend dicken Brillengläsern zu ihm ins Abteil und später an denselben Tisch im Speisewagen setzte, war einfach Pech gewesen.
    »… und 1974 bin ich als junge Volontärin zum ersten Mal dort runtergestiegen. In die Via Mala-Schlucht. Über dreihundert Tritte, stellen Sie sich das vor. Damals war es noch nicht so abgesichert wie heute. Und das alles mit zweiunddreißig Viertklässlern … heute undenkbar.«
    Eschenbach zündete sich eine neue Brissago an und blickte zum Fenster hinaus. Die Vegetation war karger als unten im Tal. Die Natur hatte sich darauf eingerichtet, dass die Sommer hier kürzer und die Winter länger waren.
    Er gähnte, doch auch das half nichts.
    Es kamen Erläuterungen über die Brücken aus dem 18., 19. und 20. Jahrhundert. Und dann folgten die üblichen Räubergeschichten, die kurz nach Tiefencastel bruchlos in einen Abriss über die Historie Bündens übergingen.
    Eschenbach bestellte noch eine Flasche roten Veltliner, was unweigerlich zu einer Abhandlung über die Veltliner Morde von 1620 führte, die das düstere Kapitel der Bündner Schreckensherrschaft ausleuchtete.
    Der Kommissar schenkte nach und vergaß auch sein Gegenüber nicht, wofür er mit einem ausführlichen und temperamentvoll vorgetragenen Exposé über den Dreißigjährigen Krieg belohnt wurde.
    Neben Eschenbach lagen der Bericht von Salvisberg und das Zürcher Tagblatt . Exekution auf dem Golfplatz, von Marianne Felber, stand im Tagblatt , und die medizinischen Details dazu im zwölfseitigen Bericht des gerichtsmedizinischen Instituts.
    Weder hier noch dort las er etwas, das er nicht schon wusste oder zu wissen glaubte. Das Projektil, Kaliber .308, hatten von Matts Leute von der Spurensicherung am Tag darauf gefunden. Ein gängiges Kaliber für Langdistanzgewehre.
    Mit Salvisbergs Angaben zum körperlichen Befund, Mageninhalt, Blutgruppe und dergleichen konnte er beim besten Willen nichts anfangen.
    Das Wort, an dem er hängen blieb, war Exekution . Es unterstellte ein Motiv: Rache, Vergeltung. Aber Rache, wofür?
    Die weitaus häufigsten Motive bei Mord waren Eifersucht und Habgier. Die Rangfolge variierte je nach Land und der geschichtlichen Epoche. Geld oder Liebe, was von beidem gerade wichtiger war.
    Habgier schien Eschenbach unwahrscheinlich. Das Opfer war nicht bestohlen worden. Seine geschiedene Frau war, wie ihm Dr. Bettlach erzählt hatte, finanziell unabhängig und abgesehen davon längst aus seinem Leben verschwunden. Und sein älterer Bruder war einer der reichsten Männer der Schweiz. Kinder hatte er keine.
    »Eine schreckliche Geschichte«, unterbrach ihn die Dame in seinen Gedanken. Sie berichtete gerade von einem amourösen Abenteuer zweier ihrer Schüler, die sie im Skilager vor zweiundzwanzig Jahren auf dem Heuboden erwischt hatte.
    Mit ihrer pummeligen Hand deutete sie auf den aufgeschlagenen Artikel. »Ein Irrer, der so was tut.«
    »Wieso?«, fragte Eschenbach. »Stellen Sie sich vor, Sie hätten Ihren Mann auf dem Heuboden erwischt.«
    »Ich hätte ihn erschlagen!«
    »Sehen Sie.«
    »Gott hab ihn selig, meinen Duri. Ich hätte beide erschlagen. Auf der Stelle.« Um zu zeigen, dass sie es ernst meinte, schlug sie mit der Hand auf den Tisch, dass es schepperte.
    Die zwei amerikanischen Touristen am Nebentisch drehten besorgt die Köpfe, und der ältere Herr hinter ihr fingerte verärgert an seinem Hörgerät. Für einen Moment war es still im Waggon.
    Eschenbach musste leise lachen.
    Zuerst ein wenig beschämt, dann aber froh über die noch in ihr steckenden Kräfte, beugte sie sich langsam über den Tisch. Mit todernster Miene, fast flüsternd, fragte sie: »Meinen Sie, es war seine Frau?« Durch die Brille wirkten ihre Augen verzerrt. Wie übergroße, dunkle Glasmurmeln.
    Eschenbach, der ihre Liebe zu dramatischen Szenen nun kannte, presste die Lippen zusammen und sog langsam Luft durch die Nase ein. Schulter und Brustkorb hoben sich. Dann schüttelte er kurz den Kopf, ließ sich zurück in die Lehne fallen und atmete tief aus. »Ich glaube nicht.«
    »Schade.« Sie seufzte. Mehr sagte sie nicht.
    Sie hatte auch keine Gelegenheit mehr dazu, denn Eschenbachs Handy fiepte.
    Es war Jagmetti, er sah es an der Nummer.
    »Jagmetti, was gibt’s?«
    »Ich bin’s, Chef«, sagte Jagmetti, der überrascht war, dass Eschenbach ihn gleich beim Namen

Weitere Kostenlose Bücher