Im Sommer sterben (German Edition)
Hornbrille vergrößert wurden, glänzten wie reife Kirschen.
Eschenbach war an diesem Tag früh aufgestanden. Er liebte die frühen Stunden an Samstagen, wenn Zürich noch ruhte.
Die Storchengasse war er hochspaziert bis zum Münsterplatz, in die Bahnhofstraße eingebogen und hinunter bis zum See gegangen.
Das Gewitter, das sich am Abend zuvor angekündigt hatte und das so gut getan hätte, war ausgeblieben. Der Himmel war wieder klar und wolkenlos. Er machte zwei Boote aus, die ohne Segel, dafür mit Motor, einen Ankerplatz anliefen. Frühaufsteher? Spätheimkehrer? Er tippte auf Letzteres.
Die Möwen kreischten und absolvierten ihr morgendliches Flugtraining. Bald würden die Motor- und Dampfschiffe hier an- und ablegen. Würden Ladungen von Menschen aufnehmen, in ihre dicken Bäuche und auf ihre ausladenden Decks. Die Möwen würden die Schiffe begleiten, hinauf bis nach Rapperswil und wieder zurück an den Bürkliplatz. Manche würden vorauseilen, andere hinterherfliegen. Vorboten und Nachzügler. Und alle würden sie in die Luft geworfene Brotkrümel mit waghalsigen Manövern erhaschen und dabei kreischen, wie sie es immer taten.
Eschenbach zog gemächlich an seiner Brissago und machte sich langsam auf den Heimweg. Manchmal blieb er stehen, schaute den Gemüseverkäufern beim Aufstellen ihrer Stände zu oder grüßte freundlich, wenn ihn jemand zu kennen schien. Hier und da vernahm er das Kreischen halb leerer Trams. Es war ein anderer Klang, als der heisere Schrei der Möwen.
Nachdem er zu Hause ein paar Sachen in seine Reisetasche gepackt hatte, fuhr er ins Goldene Egg.
Fettfrisur hatte sich die Haare gewaschen, und das Frühstück stand auf dem Tisch. Speckrösti und Spiegelei. Frisches Brot, riesige Portionen von Aufschnitt, Bündnerfleisch und Salami. Dazu heißer Kaffee und frische Milch und Butter vom Bauernhof.
Fettfrisur hieß in Wirklichkeit Hildy Gaffner. Sie führte den Betrieb alleine, seit sich ihr Mann vor zwei Jahren mit einer Kellnerin, einer Russin, davongemacht hatte.
Sie habe vor allem Stammgäste. Waldarbeiter, Motorradfahrer, Biker, Leute vom Vermessungsamt, Bauern aus der Gegend und Rentner mit Hunden, hatte sie Eschenbach erzählt. Viele Rentner seien darunter, schlügen ihre Zeit mit Kartenspielen und einem Gläschen Wein tot. Einfache Leute. Froh, wenn sie nicht zu Hause sein müssten und fürs wenige Geld noch etwas Währschaftes bekämen.
Ab und zu habe sie auch mal das Militär zu Gast. Das brauche es auch, hatte sie gemeint. Man müsse tolerant sein. Aber keine Ausländer, vor allem keine aus Russland.
Die Frage, ob auch Golfer zu ihr kämen, verneinte sie. Es sei eine andere Welt dort drüben. Allerdings sei ihr ein weißes oder sandfarbenes Auto aufgefallen, das auf dem Parkplatz gestanden habe. Ein VW oder Opel. Sie hatte sich nicht festlegen wollen. Aufgefallen sei es ihr deshalb, weil es ein schwarzes Militärkennzeichen gehabt habe, aber niemand vom Militär in der Gaststube war.
Sie schauten sonst immer bei ihr herein, die Herren vom Militär. Auch die Offiziere. Wenn es auch nur auf ein Bier, einen Kaffee oder eine Ovomaltine sei. Man müsse schließlich tolerant sein, sonst stünde niemand da, wenn die Russen kämen.
»Todsicher, Herr Kommissar«, hatte sie gesagt. »Der Wagen war da. Am Donnerstag … und gestern auch, als ich die Abfälle in die Sautränke gebracht habe.
Eschenbach war unwohl geworden, als er daran dachte, wie sie alle auf dem Platz gestanden hatten. Wie weidende Rehe im Zielfernrohr des Jägers.
An das Militärkennzeichen hatte sie sich nicht erinnern können. Das hätte Eschenbach auch verwundert. Aber es wies in eine Richtung, in die der Kommissar auch schon gedacht hatte.
Wer aus über sechshundert Metern einem den Kopf wegschoss, musste ein verdammt guter Schütze sein. Es gab vielleicht zwei Dutzend Leute im Land, die das konnten, und es lag auf der Hand, dass man sie bei der Polizei oder beim Militär finden würde.
Nach einem Frühstück, das auch für einen Waldarbeiter sehr reichlich bemessen gewesen wäre, und einem selbst gebrannten Kirsch, auf dem die Wirtin bestand, verließ Eschenbach das Goldene Egg.
Er hatte sich überessen. Sein Magen brannte die Speiseröhre hoch; er fühlte sich schon wieder hundemüde. Und weil er noch einen Bericht von Salvisberg in der Tasche hatte, den er unbedingt lesen wollte, hatte er sich entschieden, das Auto stehen zu lassen und mit der Bahn ins Engadin zu fahren.
Er hatte sich darauf
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