Im Sommer sterben (German Edition)
Wiederfinden. Vor allem das Wiederfinden. Sie tat es mit dem Lächeln einer Muse und der Präzision eines Schweizer Uhrwerks. Das Lächeln haperte selten, das Uhrwerk nie.
Angesichts des Papierstoßes fragte er sich, wie es um das Lächeln stand. Er wollte ihr noch etwas Zeit gönnen, nahm den kleineren Stapel Akten und sah sich das Dossier mit den Scharfschützen an. Hottiger konnte ihm gestohlen bleiben.
Die meisten Personen fanden sich, wie er vermutet hatte, im Wirkungskreis von Militär und Polizei. Name, Funktion und Dienstgrad waren aufgeführt. In einer weiteren Spalte standen Daten betreffend Aus- und Weiterbildung. Waffen-, Schießund Sprengstoffkurse. Ein Haufen Spezialausdrücke und Abkürzungen. Die gängigsten kannte Eschenbach. Diejenigen, welche ihm nichts sagten, kennzeichnete er mit Bleistift. Die letzte Spalte galt besonderen Bemerkungen . Bei einigen war sie leer, bei anderen enthielt sie Hinweise auf besondere Talente, mögliche zusätzliche Ausbildungen, Einsatzmöglichkeiten und Ähnliches.
Die zweite Liste war weniger klar gegliedert und nicht so ausführlich. Angaben über zivile Personen, die in ihrer Freizeit mit Gewehren hantierten und von denen man annahm, dass sie mit Langdistanzwaffen umgehen konnten. Die Angaben stammten von offiziellen und inoffiziellen Stellen. Die meisten vom Schweizerischen Schützenverband.
Eschenbach interessierte sich vor allem für die erste Liste. Er sah sie lange an, nahm einen Bleistift, unterstrich und kreiste ein. Fragezeichen und Ausrufezeichen, Schlangenlinien und kleine Rechtecke. Er wusste nicht, nach welchen Kriterien er suchen sollte. Der militärischen Einteilung? Der örtlichen Nähe des Waffenplatzes zum Golfplatz? Alter, Zivilstand, Kinder? Was verband den Mörder mit dem Opfer? Was war das Motiv? War es tatsächlich Rache, wie Marianne Felber vom Zürcher Tagblatt insinuierte?
Exekution auf dem Golfplatz! Ihr Artikel war auch in der Pressemappe. Zwei Dutzend andere waren hinzugekommen. Der eine schrieb vom andern ab. Es war wenig Originelles dabei. Die Unfähigkeit der Polizei – persönliche Kritik an ihm eingeschlossen –, der Bezug zum Killer in Washington, eine kritische Beleuchtung des Schusswaffengesetzes in der Schweiz, die Sicherheit auf Golfplätzen, Tennisplätzen, Fußballplätzen. All das konnte man erwarten und all das wurde auch geschrieben.
Am besten gefiel ihm der Hintergrundbericht über die Schweizer Sniperszene von Hannes Kollwitz vom FOLIOS. Schien einiges zu wissen und schrieb einen süffigen Stil. Vielleicht müsste er ihn einmal treffen.
Rosa Mazzoleni kam ihm zuvor. Eschenbach wollte sie gerade zu sich bitten, als ihre Stimme aus der Gegensprechanlage schepperte. Der Kommissar konnte am Ton nicht erkennen, ob das Lächeln schon wieder zurückgekehrt war. Er drückte auf den Knopf. »Claudio Jagmetti ist hier.«
Eschenbach stand auf – und als er Claudio zur Tür hereinkommen sah, setzte er sich gleich wieder hin. »Herrgott, wie sehen Sie aus, sind Sie vom Zug überfahren worden?«
Jagmetti verzog den Mund zu einem Lachen. Sein rechtes Auge war nur noch ein Schlitz, die Haut darunter dunkelrot und geschwollen. Ein weißer Gazestrip klebte über der Nase; ein zweiter an seiner Unterlippe.
»Halb so schlimm«, nuschelte er. »Die Nase ist zum Glück nicht gebrochen, und die Unterlippe konnte mit zwei Stichen genäht werden.« Es klang tapfer.
»Du lieber Himmel«, Eschenbach deutete auf den freien Stuhl gegenüber. »Setzen Sie sich hin und sagen Sie um Gottes willen, was passiert ist.«
Claudio Jagmetti erzählte, was sich am vorigen Abend im Old Shepherd abgespielt hatte. Als Eschenbach die Lage erfasst hatte, fuhr er sich mit beiden Händen durchs Haar und schloss die Augen. Durchs offene Fenster roch er den Regen. Er atmete tief durch.
Es war Rosa Mazzolenis Stimme, die dem Schweigen ein Ende machte: »Herr Bucher vom BAP ist in der Leitung. Kann ich ihn durchstellen?«
Der Kommissar brummelte etwas Unverständliches in die Gegensprechanlage; dann nahm er den Hörer ab. Marcel Buchers Stimme war seltsam zurückhaltend. Regnete es auch in Bern? War die Welt dort schon im Begriff unterzugehen? Es klang ganz danach. Eschenbach hatte das Gefühl, er müsse dieser untergehenden Welt zuversichtlich entgegentreten und raffte sich auf. »Wir waren heute beim Stadtkommando. Die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren. Kommt gut, die Sache. Haben es voll im Griff, bei der Stadt …« Eschenbach war gar nicht er
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