Im Sommer sterben (German Edition)
Bewusstlosigkeit.
Bevor der Kommissar gelernt hatte, mit dem Phänomen Lenz umzugehen, hatte er ein langes Gespräch mit ihm geführt. Das war damals gewesen, als Eschenbach seine Stelle als Kripochef neu angetreten und Lenz schon über zehn Jahre zum polizeidienstlichen Inventar gehört hatte. Die vierteljährlichen Ausfälle, gelegentlich gefolgt von therapeutischen Kurzaufenthalten in Kliniken für psychisch Kranke, hatten Eschenbach beunruhigt, und er fragte sich, warum bisher niemand daran Anstoß genommen hatte. War es wirklich niemandem aufgefallen, oder wollte man es einfach nicht wahrhaben?
Als ihm Lenz damals gegenübersaß, wach und ohne die typischen Anzeichen eines Alkoholikers, und ihm sagte, dass Alkohol gar nicht sein eigentliches Problem sei, hatte er ihm aufs Wort geglaubt. Eschenbach kannte natürlich die Ausreden typischer Alkoholabhängiger. Aber Lenz war anders, und sein Problem war es auch. Durch eine Laune der Natur versagten bei ihm sämtliche Mechanismen, etwas zu vergessen.
Er vergäße nichts, hatte er ihm anvertraut, wobei der starre Blick seiner grau-blauen Augen auf seinen Händen ruhte. Es sei nicht schön, wenn man nichts vergäße. Eigentlich sei es grauenhaft. Auch das unwichtigste, kleinste Detail, das er in irgendeinem Scheißbericht irgendwann einmal gelesen habe, hafte in seinem Gedächtnis wie Mehl an nassem Brotteig. Dieser Umstand veranlasse ihn ab und zu alles »runterzuwaschen«, wie er es nannte. Es sei nachher nicht weg – aber besser auszuhalten.
Eschenbach ging die Sache damals ziemlich nahe. Er unterhielt sich mit mehreren Neurologen und ging in die Klinik, in der Lenz gelegentlich behandelt wurde. Schlussendlich fand er einen Arzt, der Lenz begleitete und ihm ermöglichte, seine Arbeit im Archiv weiterzuführen. Es war der Anfang einer langen und vielleicht manchmal etwas skurrilen Freundschaft zwischen zwei sehr unterschiedlichen Menschen.
Gerade als er die Nummer vom Archiv nochmals wählen wollte, kam Jagmetti mit einer kleinen Aktentasche unter dem Arm ins Büro.
»Störe ich?«, fragte er höflich.
»Setzen Sie sich … und zeigen Sie mal her.«
Eschenbach blätterte in der Kopie, die ihm Jagmetti auf den Tisch gelegt hatte. Es war ein vollständiger Ausbildungsplan für angehende Generalstabsoffiziere, adressiert an einen Hauptmann Steiger. Die Klassifikation des Dokumentes war, wie Eschenbach angenommen hatte, geheim .
»Und das Original liegt wieder dort, wo Sie es gefunden haben?«, brummelte Eschenbach, ohne aufzusehen.
»Ja.« Der junge Polizist unterließ es zu bemerken, dass Eschenbach ihn das schon zum dritten Mal fragte.
Der Ausbildungsplan umfasste gut ein Dutzend Themen, die sich in Lernmodule gegliedert über das ganze Jahr erstreckten. Offenbar nahm der Kommandant, in dessen Büro das Ding herumlag, auch an diesem Ausbildungslehrgang teil. Einige Themen waren unterstrichen, und am Rand waren, mit kritzeliger Schrift, einige Bemerkungen angebracht. Hottiger unterrichtete die Module Geheimdienst , Strategische Kriegführung und Verhandlungspraktik bei Entführungen . Zwei der Lehrgänge fanden erst im kommenden Herbst statt. Einer war bereits vorbei. Anfang Juli, im Seminarhotel Kulm, am Aegerisee. Kanton Zug.
»Dann war Hottiger gar nicht in Amerika, als der Mord passierte.« Eschenbach deutete auf den Ausbildungsplan und atmete tief durch. »Das ist allerdings ein Ding.«
»Eben«, sagte Jagmetti und legte ein Bein übers andere. »Das dachte ich auch.«
Vom Aegerisee bis zum Golfclub waren es knappe zwanzig Minuten mit dem Auto. Eschenbach überlegte. Es wäre also möglich gewesen, dass Hottiger mit einem militärischen Dienstwagen die kurze Strecke zurückgelegt und Bettlach niedergeschossen hat und dann wieder zurückgefahren ist. Eine gute Stunde würde er dafür brauchen, rechnete er sich aus. Das würde bei einem Seminar für Verhandlungspraktik nicht groß auffallen. Er suchte einen Detailplan mit Tageszeiten, fand ihn jedoch nicht. Lediglich den Vermerk, dass Details zu den Kursen den Teilnehmern separat, zwei Wochen vor Kursbeginn, zugesandt würden.
»Haben wir Glück?«, fragte Jagmetti, der bis dahin geschwiegen und sich mit verschränkten Armen auf die schlechte Laune von Eschenbach eingestellt hatte.
»Glück? Ich wäre schon froh, wir hätten etwas weniger Pech …«, grummelte der Kommissar und blätterte nochmals auf die letzte Seite des Dokumentes. »Es ist eine Spur, mehr nicht. Und eigentlich hätten wir auch
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