Im Sommer sterben (German Edition)
ohne …«, er machte eine kurze Pause, »ohne das hier drauf kommen sollen.« Er fuchtelte mit den zusammengehefteten Seiten herum und begann sich dann Luft ins Gesicht zu fächeln. »Sagen Sie mal, Jagmetti«, wieder machte er eine Pause und drückte seinen Oberkörper gegen die Stahlrohrlehne. Das schwarze Leder knirschte bedrohlich, und der junge Beamte dachte daran, was passierte, wenn das Ding zusammenkrachen würde.
»Was soll ich sagen?«, warf Jagmetti ein. Er wollte verhindern, dass sich die Lehne noch mehr bog und dass Eschenbach den Anschluss an seine Frage verlor.
»Was genau hatte Doris Hottiger gesagt, als sie Ihnen … ich meine, als sie die Andeutung machte, dass sie verduften würde?«
Jagmetti überlegte und ließ den Abend im Old Shepherd nochmals vor seinem inneren Auge vorbeiziehen. Wie sie da gesessen hatte, selbstbewusst und doch zerbrechlich. Er sah die blonde Strähne, die sie immer wieder aus ihrem Gesicht gestrichen – und ihren Mund, wie er sich bewegt hatte.
»Ich bin keine Mörderin …« Jagmetti hörte den Hall ihrer weichen Stimme und fragte sich, wo sie in diesem Moment gerade war. »Ja, das war ihr Wortlaut.«
»Das kann nicht alles gewesen sein«, witzelte Eschenbach. Aber trotz seines Lächelns blieb dem jungen Polizisten nicht verborgen, dass Eschenbachs Blick ernst und seine Stimme ruhig geblieben war. »Was noch? Hat sie ihren Vater erwähnt?«
»Nein. Das wüsste ich, das wäre mir aufgefallen. Sie hat etwas anderes angedeutet …« Er schien die Worte zu suchen, zögerte und fuhr fort. »Dass sie Dinge gemacht hätte, die nicht ganz rechtens wären und die nun ans Tageslicht kämen. Den genauen Wortlaut habe ich nicht mehr; habe auch nicht weiter nachgefragt. Ich wollte dem Moment seine Schönheit nicht rauben.«
»Jagmetti, werden Sie nicht sentimental«, schnauzte Eschenbach. Er mochte keine sentimentalen Polizisten. Mehr noch, er hasste sie. »Eitelkeit und Sentimentalität, dort hockt der Teufel drin, glauben Sie mir. Und in der Unfähigkeit, die Dinge zu Ende zu denken …«, polterte er weiter. »Und im Detail, dort hockt er auch noch.«
»Ich weiß«, sagte Jagmetti und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Seine rechte Gesichtshälfte schimmerte blau-schwarz, und den dunklen Faden, mit dem seine Unterlippe genäht worden war, konnte man deutlich erkennen. Dann sah er Eschenbach trotzig an: »Und Sie, Chef? Ich meine, haben Sie Ihre Gefühle immer im Griff?«
»Ja«, raunzte der Kommissar. »Das heißt nein! Natürlich nicht … aber es gibt Grundsätze, Jagmetti: Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps.«
»Ich trinke keinen Schnaps«, sagte der junge Polizist trocken.
»Ich meine es im übertragenen Sinn, nicht wörtlich!« Eschenbach tupfte sich den Schweiß von der Stirn. Eigentlich hatte er nichts gegen sentimentale Menschen. Er selbst war ja auch einer. Aber nicht im Dienst. Wenigstens versuchte er es. »Keinen Alkohol und keine Gefühlsduselei, Jagmetti! Saufen und vögeln können Sie nachher … oder vorher, aber nicht, wenn wir mitten in einem Fall stecken wie diesem.«
Jagmetti schwieg. Er mochte sich nicht mit Eschenbach streiten. Der Kommissar hatte schlechte Laune, und es hätte nichts gebracht, zu betonen, dass er mit Doris Hottiger nicht mehr geschlafen hatte, seit jenem Tag, an dem sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Warum sollte er sich rechtfertigen? Sagen, dass er nur selten trank – und noch viel seltener besoffen war. Eigentlich nie, wenn man es genau nahm. Liebestrunken! Das war er gewesen, an jenem Abend. Zugegeben. Und etwas angeheitert vielleicht auch. So angeheitert, dass man seinen Zustand nicht einzig und allein den paar Drinks, die er trank, in die Schuhe hätte schieben können.
Zugegeben, er war verrückt nach ihr. Verrückt nach ihrem Lachen und dem Leuchten in ihren Augen. Wenn sie lachte, war er verrückt nach den kleinen Grübchen, die sich zärtlich in ihre Wangen legten. Und als er auf der Tanzfläche im Kaufleuten den dumpfen Bass in seiner Magengegend gespürt und sie ihm, im hüpfenden Licht der Stroboskoplampen, flüchtig, für den Bruchteil einer Sekunde in die Augen gesehen hatte, war alles um ihn herum in ein bedeutungsloses Nichts versunken. Es war mehr als Saufen und Vögeln. Viel mehr. Aber was hatte es für einen Sinn, es Eschenbach zu erklären. Ihm, dem alten Zyniker? Er würde es ohnehin nicht verstehen und schon gar nicht, dass er sich Sorgen machte. Es waren alte Wunden, die aufplatzten. Es
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