Im Sommer sterben (German Edition)
gibt Dinge, dachte Jagmetti, die nicht wieder gutzumachen sind. Dinge, die man ganz einfach auslöffeln muss. Bis zum bitteren Ende.
»Sie sind ein hoffnungsloser Fall, Jagmetti!« Eschenbach schnaufte. Dann begann er zu grinsen: »Wenn ich diesen romantischen Schwachsinn höre, dann …«, jetzt zögerte der Kommissar einen Moment, bevor er weitersprach. »Dann habe ich das Gefühl, ich höre mich selbst, als ich noch so jung war wie Sie.«
Jagmetti fühlte sich durch die plötzliche Offenheit des Kommissars überrumpelt und befreit zugleich. Er lachte erleichtert.
»Lachen Sie nur«, sagte Eschenbach. »Das macht es vielleicht einfacher für Sie, nicht für mich. Ich bin schon auf dem besten Weg, ein vergrämter alter Mann zu werden. Also bleiben Sie bei Ihrem Schwachsinn.« Dann griff er zum Telefonhörer und wählte abermals die Nummer vom Zentralarchiv.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis jemand antwortete. Eine junge Mädchenstimme, die er nicht kannte, bediente das Telefon. »Holen Sie mir bitte Lenz an den Apparat«, brummte er ungeduldig. Es knackte, und wieder vergingen Jahrzehnte.
Während der Ferienzeit war das Zentralarchiv ein Tummelplatz von Schülerinnen und Schülern, die über einen Ferienjob froh waren. Die Aushilfen waren von den Mitarbeitern im Archiv gern gesehen, denn sie brachten Leben in die Bude. Wenigstens die paar Wochen im Sommer. Eschenbach graute es davor. Er dachte daran, welche Informationen dort unten für unbedarfte Schüler frei zugänglich waren.
Endlich vernahm er die Stimme von Ewald Lenz.
»Was ist? Feiert ihr gerade eine Kellerparty, oder schlafen alle bei euch?« Eschenbach, dem der Schweiß schon wieder auf der Stirne stand, dachte an die kühlen Kellerräume. Er wusste natürlich, dass das Archiv mit Arbeit eingedeckt war, und dass er mit seiner Bemerkung einen Lenz’schen Wutanfall provozieren würde.
»Schwitzt du schon wieder in deiner Backstube?«, kam es zuckersüß zurück. »Wir haben angenehme zwanzig Grad und ein paar Kisten kühles Bier.« Statt des erwarteten Fluchens kam nur ein heiseres Lachen. »Die Aushilfen machen einen super Job, und ich hab mich etwas aufs Ohr gelegt.« Es folgte ein Glucksen und Kichern.
»Sag mal, spinnt ihr? Du weißt ja selbst, was für klassifiziertes Material bei euch herumliegt … also hab bitte ein Auge drauf!« Eschenbach merkte zu spät, dass diesmal er es war, der Lenz auf den Leim ging und nicht umgekehrt. Lenz kicherte, und dann war einen Moment lang Ruhe.
»Spaß beiseite. Natürlich haben wir die Sache im Griff. Bin gerade dabei, Adlerauge voranzutreiben.«
Eschenbach konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Dass man einem Projekt, bei dem es darum ging, alte, verstaubte Akten einzuscannen, den Namen Adlerauge geben konnte, sagte alles.
Ewald Lenz hatte einen Hang zum Skurrilen. Aber vielleicht musste man so sein, wenn man sein ganzes Leben in Archiven grübeln, in Datenbanken wühlen und auf irgendwelchen Internetseiten herumsurfen musste. Lenz wollte es so. Er war eine wandelnde Festplatte, deren einziger Lebensinhalt das Speichern und die Wiedergabe von Informationen war.
»Dann hast du sicher Zeit, mir eine kleine Akte zusammenzustellen …«, witzelte Eschenbach.
»Für dich tue ich doch alles«, kam es mit gespielter Freundlichkeit. »Wen hast du im Visier?«
»Ernst Hottiger.«
»Den Sicherheitsspezialisten?«
»Genau. Kennst du ihn?«
»Ist ein stilles Wasser, der Hottiger … nicht uninteressant«, sagte Lenz. »In diesem Fall gibt das System nicht viel her, da muss ich tiefer graben und meine Beziehungen zu ein paar Informanten auffrischen. Sag mir, wo du die Schwerpunkte haben willst. Firma oder Privates?«
»Privates. Und dort vor allem seine eigene Familie … vielleicht auch nahe Freunde. Er hat eine Tochter, Doris Hottiger, zweiundzwanzig. Ziemlich speziell, das Mädchen. Ich habe mich vor ein paar Tagen mit ihr unterhalten. Jetzt ist sie verschwunden … suchen sie, via Interpol. Vielleicht findest du ja raus, wo sie sein könnte.« Eschenbach überlegte einen Moment, ob er die Sache mit Jagmetti erwähnen sollte, ließ es aber bleiben.
»Mal sehen, was sich machen lässt«, sagte Lenz. Es klang zuversichtlich.
»Die Mutter muss bei der Geburt gestorben sein. Prüfe das bitte nach. Ich will ihren Mädchennamen wissen. Wo sie sich kennen gelernt haben. Wo geheiratet und in welchem Spital die Kleine geboren wurde. Schau dir die Urkunden an, Fotos, wenn du welche
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