Im Sommer sterben (German Edition)
Süchtiger an der Nadel.
Er schielte hinüber zu Jagmettis Lektüre. Auf einer Doppelseite sah man Prinzessin Stephanie mit De-Luxe-Wohnmobil beim Campieren in der Schweiz. »Die Zigeunerprinzessin« titelte das Blatt bissig. Nach dem Zirkusdirektor hatte sie nun eine Affäre mit einem Artisten. Ein Abstieg, wie man befand. Man sah den Leibwächter, wie er eine Pizza brachte. Kartonschachtel statt Tafelsilber. Das Blatt empörte sich, dass es sich für eine Prinzessin so nicht gehörte.
Der Fürst tat es still, die Presse laut und abschätzig. Prinzessinnen gehören nicht auf Zeltplätze und Pizzen nicht in blaublütige Magen. Verkehrte Welt, dachte Eschenbach.
Abstruse Gedanken kreisten in seinem Kopf. Was steht in unseren Genen, und wem gehorchen sie? Nach welchen Gesetzen funktionieren wir? Vielleicht stammte die Prinzessin aus einer ganz anderen Welt. Vielleicht hatte Fürstin Gracia eine Affäre mit einem Zirkusartisten oder einem Zigeuner gehabt, und niemand hatte es je erfahren? Würde es das wilde Leben der jungen Prinzessin erklären, oder war das ganze Leben nur eine Illusion?
»Irgendwie wird man freier, wenn die Temponadel bei hundertsechzig steht und der Fahrer kurzsichtig ist«, sagte er zu Jagmetti, der ihn irritiert ansah. Eschenbach schloss die Augen und öffnete sie erst wieder, als der Taxifahrer anhielt und den Fahrpreis nannte.
»Man sieht sich im Leben immer zweimal, nicht wahr, Herr Eschenbach?« Lächelnd öffnete Eveline Marchand den beiden Polizisten die Tür ihres Pariser Apartments. Sie trug ein leichtes Sommerkleid mit Blumenmuster in Blassblau und Rosa.
»Mindestens zweimal«, sagte Eschenbach und war froh, dass die Beklommenheit ihres letzten Gesprächs verflogen war.
Eveline führte ihren Besuch ins Wohnzimmer. Der alte Holzboden knarrte behäbig, und Eschenbach sah, dass Eveline keine Schuhe anhatte. Kleine, zierliche Füße huschten über hundert Jahre altes Eichenholz. Auf einem niedrigen Couchtisch aus schwarzem China-Lack standen drei Drinks bereit.
»Wassermelone, Kiwisaft und ein kleiner Schuss Cointreau. Mein Sommergetränk«, sagte sie und wies den beiden Beamten einen Platz zu. »Ihre Sekretärin hat Sie angemeldet … ich dachte, etwas Erfrischendes kann nicht schaden.«
Es waren derselbe Charme, derselbe wache Blick und dieselben Grübchen unter den hohen Wangenknochen, die Eschenbach schon bei seinem ersten Besuch verzaubert hatten.
Die beiden Polizisten ließen sich auf der Ledercouch nieder und warteten, bis auch Eveline sich setzte. Sie saß ihnen schräg gegenüber, auf einem ausladenden, mit Brokatseide überzogenen Sessel.
Eschenbach ergriff ohne Umschweife das Wort:
»Sie waren mit Doris schwanger, als Sie Bettlach über Nacht verließen. Das war der wirkliche Grund, nicht wahr, Frau Marchand?« Seine Frage platzte in den Raum wie eine Bombe ohne Widerhall. Er sah ihr in die hellen Augen, und sie schwiegen eine Weile.
Der Kommissar räusperte sich. »Ich möchte Ihnen nicht die Zeit stehlen, glauben Sie mir. Also reden wir Klartext.«
Sie nickte.
»Sie haben unter einem anderen Namen geheiratet und ein Kind zur Welt gebracht. Doris Hottiger. Stimmt das?« Wieder nickte sie.
Claudio Jagmetti, dem die forsche Gangart seines Chefs missfiel, stemmte sich auf der Couch nach vorne und griff nach einem der Drinks. Seine Hände hinterließen auf dem dunkelbraunen Leder zwei feuchte Flecke.
»Ihre Ehe mit Ernst Hottiger – können Sie dazu etwas sagen?«, fuhr der Kommissar fort. »Sie ist ungültig, da Sie zu diesem Zeitpunkt noch mit Philipp Bettlach verheiratet waren … aber das ist in diesem Zusammenhang unwichtig.« Er machte eine kurze Pause und sah Eveline Marchand an: »Ist er der Vater des Kindes?«
Eveline zögerte. Sie blickte zu Jagmetti, der sich verschluckt hatte und husten musste.
»Wir wissen aufgrund des Vaterschaftstests, den Sie damals selbst vorgebracht haben, dass Philipp dafür nicht in Frage kommt«, folgerte Eschenbach, der sich durch Jagmettis Gehuste nicht beirren ließ.
»Ja, Doris ist unser Kind«, murmelte sie und zog beide Schultern hoch, als wollte sie sich dafür entschuldigen. Dann sah sie irritiert zu dem jungen Polizisten: »Geht es?«
»Ja, ja«, keuchte Jagmetti mit hochrotem Kopf. Er hielt sich die Hand vor den Mund und ein weiterer Hustenanfall folgte. Erst als ihm Eschenbach ein paar Mal kräftig auf den Rücken klopfte, wurde es besser.
Eveline schien erleichtert. Sie nahm eines der bauchigen Gläser vom
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