Im Sommer sterben (German Edition)
»Ich möchte nicht, dass jemand aufgrund meiner Aussage verurteilt wird.«
»Da müssen Sie keine Angst haben«, sagte Eschenbach. Was er befürchtet hatte, war eingetroffen. Und doch, ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Etwas, woran er noch gar nicht gedacht hatte, und das sich jetzt, wie der Farbenfächer eines Regenbogens, zwischen Sonne und Wolkenwand vor ihm auftat. Er stand auf und ging zu seinem Pult, wo die restlichen Fotos, die man in Bettlachs Haus sichergestellt hatte, auf einem Stapel lagen. Der Kommissar blätterte sie sorgsam durch, zögerte einen Moment und nahm dann ein Bild heraus. Er legte es vor Gabathuler auf den Tisch und sorgte dafür, dass Schwester Claudia es nicht sehen konnte.
»Ja, die hier ist es! Die war’s.« Der Zivilstandsbeamte sagte es ohne Zögern, mit lauter bestimmter Stimme, als hätte er gerade eine Trauung vollzogen. Dann gab er es Schwester Claudia. Sie sah das Foto lange an. Es zeigte Doris Hottiger, wie sie lachte; das Haar fiel ihr in dicken blonden Strähnen über Wange und Schulter. Schwester Claudia blickte zu Eschenbach hoch, der noch immer stand. Ihre Augen trafen sich länger als nur für einen Augenblick, und Eschenbach war froh, dass sie schwieg.
Sie verabschiedeten sich, und Eschenbach begleitete seine Gäste nach unten zur Pforte. Gabathuler ließ sich von der Drehtür beschwingt ins Freie befördern, während Eschenbach der Schwester nochmals die Hand drückte.
»Frauen sehen anders«, sagte er, und bevor sie in der Drehtür verschwand, rief er ihr nach: »Wir melden uns.«
Als Eschenbach wieder ins Büro trat, sah er, dass Jagmetti noch immer die Fotos betrachtete, die er säuberlich in einer Reihe nebeneinander gelegt hatte.
»Diese Ähnlichkeit ist verblüffend. Warum sind wir nicht früher drauf gekommen, Chef?«
»Weil wir Männer sind«, sagte Eschenbach. Er nahm das Foto von Doris Hottiger und gab es Jagmetti. »Das schenke ich Ihnen.«
»Dürfen Sie das denn?«, fragte er und nahm es an sich, als wären es die Kronjuwelen von England.
»Nehmen Sie’s!« Eschenbach dachte an die Archive im Keller, an das ganze Material, für das sich kein Schwein interessierte. Dann schob er die drei Bilder zusammen, die noch auf dem Tisch lagen, hob sie auf und legte sie zu den anderen auf seinem Schreibtisch. Sie zeigten in unterschiedlichen Posen ein und dieselbe Frau: Eveline Marchand.
Der Anruf von Salvisberg erreichte ihn morgens um halb sieben. Eschenbach saß mit Jagmetti in einer überfüllten Wartelounge am Flughafen Zürich.
»Immer noch der alte Frühaufsteher«, grummelte der Kommissar.
»Wer zu spät aufsteht, den bestraft das Leben«, klang es heiser am anderen Ende. »Bei mir schlafen noch alle«, fügte er hinzu und lachte.
Eschenbach hatte keine Lust, den Spruch zu kontern; nicht um diese Zeit.
»Ich habe zwei gute Nachrichten.« Salvisberg merkte, dass Eschenbach für Witze nicht aufgelegt war. »Die Körper auf den Abzügen sind identisch mit Bettlach und dem Toten aus Basel. Ich habe gestern Abend noch mit meinem Basler Kollegen telefoniert. Er ist derselben Meinung. Narben, Körperbehaarung, Faltenbildung etc. Ich erspare Ihnen die Details … steht alles in dem Bericht, den ich Ihnen noch zukommen lasse. Dachte nur, Sie wollen es vielleicht gleich wissen.«
»Ja, danke.« Eschenbach überlegte. Dann hatte er doch Recht mit seiner Vermutung gehabt: Es schien, als habe jemand zwei Kinderschänder exekutiert. Aber wer war dieser Jemand, der sowohl Richter wie Henker spielte? Der ohne viel Federlesens die Bösen von den Guten trennte? »Was meinen die Basler: Ist es Selbstmord oder Mord?«
»Selbstmord ist nicht sehr wahrscheinlich. Die Dosis Schlaftabletten war zu gering, meinen sie. Obwohl, ich möchte meinen Kollegen nicht vorgreifen. Die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen.«
»Ich weiß«, murmelte Eschenbach. »Dann war es also Mord.«
»Im Gegenteil«, konterte Salvisberg. »Sie gehen von einer natürlichen Todesursache aus … allenfalls ein Unfall.«
»Was?« Eschenbachs Weltbild schien zu wanken. »Das glauben Sie doch selbst nicht, oder?!«
»Wieso nicht? Das sind bei weitem die häufigsten Todesursachen. Vergessen Sie das nicht. Die Leute fallen um … einfach so oder durch einen Unfall.« Salvisberg lachte über sein Wortspiel. »Ermordet zu werden ist ein Privileg, das nur wenigen zukommt.«
»Ach hören Sie auf, Salvisberg. Die beiden kannten sich. Jemand hat hier den Henker gespielt. Da bin ich
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