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Im Stein

Im Stein

Titel: Im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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fährt von der Stadtautobahn, fährt eine Weile hinter der Müllabfuhr her, biegt dann ab, sieht kurz die alten leeren Hafenspeicher am Kanalbecken, hinter denen der Himmel dunkelrot wird, biegt wieder ab, hört weit weg die Gewitter donnern, die Frau steht schon vorm Haus und raucht. Sie wirft die Zigarette weg und steigt ein. Sie fahren. Die Bullen stehen neben ihm an der Ampel. Golf 2. Sparprogramm, oder was? Ein dürres Gesicht auf der Rückbank, struppige Haare, gelbe Augen, »Kopf runter, du Aas«, er hört die Schreie und das Kreischen von der Achterbahn. Im bunten Chinatown, den großen Hallen am anderen Ende der Stadt, stürmen die Bullen die letzten Depots, Kristall im Tausch gegen Ware, Technik, Taschen, Geld und Brot vom Bäcker, Autoreifen, Autoradios, was die Zombies kriegen auf ihren Wegen durch die Nacht, die olympischen Ringe werden durchfahren, kopfüber, kopfunter, berühmte Achterbahn aus München, er sieht die Frau im Rückspiegel, dunkle Haare mit blonden Strähnchen drin, jetzt summt sie ein Lied, das kennt er, ist ein schönes Lied, hat seine Mutter ihm oft vorgesungen, als er ein Kind war. Kurz vor Mitternacht gibt es das große Feuerwerk, zwischen Riesenrad und Achterbahn, sie fragt sich, ob sie das sehen kann nachher, hoch oben über der Stadt, die Bullen beschlagnahmen elf Tonnen Pyrotechnik in Chinatown, gelb, grüne Wellen. Sie fahren, und sie hält die Hand in den Fahrtwind, alle Fenster offen. »Machst du das Radio an, bitte?«
    »Für dich immer.« Etwas berührt kalt und klein und feucht ihre Hand, wie eine Schneeflocke.

III (Bumm Bumm)
    Du liegst auf der Straße. Und dabei hast du gedacht, die neunziger Jahre sind vorbei.
    Und sie sind ja auch fast vorbei, kurz überlegst du, welches Jahr genau ist, du weißt es, du weißt es doch, bist das ganze Jahr über aufgestanden und schlafen gegangen, aufgestanden und schlafen gegangen und hast deine Geschäfte gemacht, und viel Schlaf war nicht …, aber es ist nicht richtig greifbar, du spürst deinen Kopf auf dem Pflaster, als wäre er leckgeschlagen beim Aufprall, regnet es?, du liegst zwischen den Autos und siehst die Räder und Felgen, in einer Alu-Felge direkt vor dir bricht und spiegelt sich das Licht, Straßenlaternen, Scheinwerfer, Nacht, und du versuchst, dein Gesicht zu erkennen, neunzehnhundertneunundneunzig.
    Nein, nichts ist vorbei. Die Zeit der Gewalt war lang, aber auch lange her, schon fast nicht mehr wahr, die Jahre der Ruhe, dein Kopf auf dem Pflaster, die Stadt ist still am Sonntag, und der Regen ist rot, das Auto ist rot, direkt neben dir. Du bist alleine gekommen, obwohl sie alle gesagt haben: »Geh nicht alleine!«, aber du musstest allein gehen, die Neunziger sind fast vorbei, wir wollen nur Geschäfte machen, du hast kurz geschlafen und bist aufgestanden, da war es schon fast Abend. Du hattest noch Zeit und hast Kaffee getrunken und eine Weile draußen im dunklen Garten gestanden, es wird wieder zeitig dunkel jetzt, du wolltest runter zum See laufen, aber das Telefon hat geklingelt. Nein, es hat nicht geklingelt, du hattest es leise gestellt und hast es blinken sehen durch die Scheibe der Veranda, das Display blinkte und blinkte im Aufladegerät wie ein kleiner Leuchtturm. Nein, du hörst es klingeln, du stellst es doch nie leise, das muss woanders gewesen sein, du hast das ganze Haus voller Telefone, und keins ist leise gestellt, das Handy in der Jackentasche summt. Du drehst dich auf die Seite, versuchst, in die Jackentasche zu greifen. Das fällt dir schwer, obwohl deine Arme in Ordnung sind. Dein Handy summt und summt, und du spürst deinen Herzschlag, und dann hört es auf, und du holst tief Luft und atmest aus, holst tief Luft, atmest die Angst aus, da kommt keiner mehr, nein, da kommt keiner mehr, er war allein gewesen, genau wie du, und du hast ihn weggehen sehen, er hat sich einfach umgedreht und ist gegangen. Hat er noch was gesagt? Was hat er vorher zu dir gesagt? Du kannst es nicht greifen. »Das ist von …« Nein, keine Namen, nie Namen, fang schon jetzt damit an, sie werden dich fragen, gut, dass sie dich noch fragen können, aber sie können dich fragen, bis ihre scheiß Zungen vertrocknen, du atmest die Angst aus und blickst auf deine Beine, die du nicht mehr spürst. Edo, du Drecksau, ich mach dich … Nein, hör auf, die Neunziger sind … Aber du weißt, dass du was tun musst, dass du das tun musst, jetzt wieder, wo du dachtest …, du hast zu viel gedacht, viel zu viel gedacht und zu

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