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Im Stein

Im Stein

Titel: Im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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Vaterländischen Krieg«. Das Ende der Utopien. »Ruhm und Ehre der Sowjetunion«. Das Ende des Wahnsinns. Der Anfang des anderen Wahnsinns. Neunzig. Ein reeller Wahnsinn zumindest. Er starrte immer noch auf das Gesicht im Stein. Junger Mann, what have you done .
    Er hörte die Vögel. Hatte sich doch die ganze Zeit über gewundert, dass er keine Vögel hörte. Hier in diesem Grün, diesem Wald. Wo sie sicher zu Zehntausenden lebten. Aber vielleicht war es der nahende Abend, der sie aktiv werden ließ. Ein Zwitschern und Singen aus den Bäumen, das dann aber plötzlich verstummte. Dann begann es wieder, dann verstummte es wieder. Während er immer noch auf das Gesicht des jungen Leutnants starrte. Für Frieden und Sozialismus: Seid bereit! Er blickte auf das Mädchen, das eine Reihe vor ihm stand, wie gern er sie hatte, unten am Kanal, vor zwei Tagen sind sie zusammen in den alten Hafenspeichern gewesen, er hatte ihr von diesem Buch über die utopische Stadt Eden City erzählt, bevor er sie küsste, er ist zwölf Jahre alt, er möchte so viel wissen, und er träumt von den Häfen für Schiffe und Raumschiffe, und er spürt und sieht den Schlag ihres Herzens, die Hand auf ihrer Brust, und schämt sich und will wieder mit ihr allein sein und blickt dann auf das steinerne Emblem, Hammer und Sichel, denkt an den großen hydraulischen Hammer, den er durchs offene Werktor sieht und hört, die Hitze drückt bis auf den Fußweg und die Straße durch dieses offene Tor, die stetigen Schläge des riesigen Hammers, Funken sprühend bearbeitet er das Metall, den Stahl, was auch immer, sie jagen ihn weg, wenn er zu nah ist, er hockt auf dem Fußweg und blickt auf die Arbeiter der Gießerei, der großen Schmiede, zusammen hocken sie dort auf dem Bordstein, ihre Schultern berühren sich, bis sie zu dem alten verfallenen Hafen gehen, er sieht ihr Gesicht in dieser Stille, der Chor der sowjetischen Soldaten, es sind bestimmt über hundert, und mehr noch, er will nicht zählen, Thors Hammer hat er schon fast vergessen, das gefiel den Lehrern ganz und gar nicht, utopische Literatur, das ist schon was anderes, das sind Sozialismus und Utopien zwischen den Sternen, jawoll, was willst du mal werden?, Kaufmann will ich werden, Geschäftsmann will ich werden, Häuser will ich bauen, für mich und für andere, große Häfen will ich bauen, und dann entfernen sie sich, Immer bereit! , laufen Hand in Hand zwischen den Gräbern, immer tiefer in die kleinen Wälder, diese Baumgruppen, Büsche und verwilderte Zierpflanzen, stoßen auf Mauern, sitzen auf steinernen Bänken, sehen den Abend kommen und berühren dann, irgendwo dazwischen, die Flügel des Engels, den Bart des Engels, der auf einer steinernen Bank sitzt, am Fuße einer Grabstätte, den Kopf gesenkt, die Augen geschlossen unter der zerfurchten Stirn, klopfen an seine Haut und hören, TOCK tock, DONG dong, dass die Figur aus Eisen ist, wie sie denken, aus irgendeinem Metall, das grün geworden ist im Laufe fremder Jahrzehnte.
    Er starrte immer noch auf das graue Gesicht im Stein. Vielleicht war er deswegen auf diesem Friedhof. Wohin gehst du? Auf dem er seit jenem Jahr, genau konnte er nicht sagen, welches Jahr es gewesen ist, obwohl …, wenn er zwölf, dreizehn Jahre alt war, dann … Er zählte, nahm die Hände und Finger zu Hilfe und musste lachen darüber. Was spielte das auch für eine Rolle. Der Abend kam langsam über die Mauer. Leises, dumpfes Knallen. Sie rannten, sich an den Händen haltend, sahen die drei orangen Männer auf der anderen Seite der Mauer …
    Er hatte das Buch vor einigen Monaten wiedergefunden. »Eden City«. Er hatte es gekauft, in einem der Antiquariate im Stadtzentrum. Ein sehr langer, sehr hagerer Mann mit Glatze hatte eine Weile in den hinteren Räumen gesucht, er hatte ihn murmeln und flüstern gehört, vielleicht blätterte er in einem Register oder Verzeichnis der utopischen Bücher, der sozialistischen utopischen Literatur, und während der Dürre in seinem Kabuff kramte, ging er an den Regalen auf und ab, studierte einige Titel mit geneigtem Kopf, er las wenig Belletristik, nur hin und wieder einen Kriminalroman, er beschäftigte sich mit Geschichte, Machiavelli, der Untergang des Römischen Reiches, die Geschichte der Prostitution, »Das Kapital«, dessen dickleibige Lederbände jetzt direkt vor ihm im Regal standen, er hatte es nie ganz durchgeackert, nur größere Teile gelesen, die ihn interessierten, er besaß genau dieselbe Ausgabe, braunes

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