Im Stein
Kunstleder, er zog einen der Bände aus dem Regal, den ersten, »Dietz Verlag Berlin 1951«, er blätterte weiter und sah, dass der ehemalige Besitzer des Werkes ganze Passagen rot unterstrichen hatte, Seite für Seite, mal ein, zwei Sätze, mal ganze Abschnitte, mal einzelne Worte, er blätterte, zog auch den zweiten Band aus dem Regal, und auch in diesem fand er die roten Unterstreichungen … Das tendenzielle Sinken der Profitrate ist verbunden mit einem tendenziellen Steigen in der Rate des Mehrwerts, also im Exploitationsgrad der Arbeit … Die Profitrate fällt nicht, weil die Arbeit unproduktiver, sondern weil sie produktiver wird … Der Markt muss daher beständig ausgedehnt werden, so dass seine Zusammenhänge und die sie regelnden Bedingungen immer mehr die Gestalt eines von dem Produzenten unabhängigen Naturgesetzes annehmen, immer unkontrollierbarer werden … Heilige Scheiße! Er lachte, schob die Bände zurück ins Regal, ja, daran erinnerte er sich, das hatte er vor einigen Jahren gelesen, während seines Studiums. Als er seine Lehre gemacht hatte, Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger, er will jetzt nicht zählen, hatte er, wie die meisten, einen großen Bogen um den alten Meister Marx gemacht. Er starrte auf das Gesicht des Dürren, das in der Lücke des »Kapitals« auftauchte, auf der anderen Seite des doppelten Regals, der ihn vielleicht schon eine ganze Weile beobachtete, dann sah er, dass es gar nicht der Antiquar war, der auf der anderen Seite des doppelten Regals stand, irgendein Kunde, ein Gast stand dort und studierte die Titel mit geneigtem Kopf durch eine große braun getönte Brille und beachtete ihn gar nicht, schien ihn nicht einmal zu sehen. Langsam schob er die beiden Bände des »Kapitals« zurück ins Regal. Später, der dürre Antiquar hatte ihm das Buch, das er suchte, endlich gebracht, hatte es aus irgendeiner Kiste gekramt, er hätte eine große Sammlung utopischer DDR-Literatur vor einigen Tagen angekauft, erzählte er, »Da kommen Sie gerade richtig«, später, bei einem Kaffee im Büro zwischen zwei Terminen, jemand interessierte sich für eine Wohnung in der Nähe des alten Hafens, Zukunftslage, weil sie ihn in einigen Jahren wieder in Betrieb nehmen wollten, als er endlich »Eden City. Stadt des Vergessens« durchblätterte, die Seiten beroch, sah er, dass das Buch neunzehnhundertfünfundachtzig erschienen war. Aber er hatte es doch als Kind gelesen. Wieder und wieder war er doch in seiner Phantasie und manchmal auch in seinen nächtlichen Träumen durch die Bunkerwelten gewandert, hatte sich gegen die Hierarchien aufgelehnt, die Klonmenschen vereint und aus ihrer grauen kalten Welt geführt, die Luxuswesen erobert …, er muss zwölf oder dreizehn gewesen sein, selbst wenn er schon vierzehn oder fünfzehn war … Nein. Später, als der Fußball und der Wahnsinn der Spiele in sein Leben traten, hatte er kaum noch gelesen, und die utopische Literatur verstaubte in seinem Regal. »1. Auflage, 1985«. Aber er hatte aufgehört, sich über solche scheinbaren Unklarheiten zu wundern.
Er entfernte sich langsam von dem Leutnant und dem steinernen Gesicht in der Wand. Die Wege waren voller Laub. Er schob die Hände in die Manteltaschen, es wurde kühl. Er nahm jeden Tag zwei Ginkgo-Tabletten, die hatte ihm der Graf einmal empfohlen, »Gut für die Durchblutung, gut fürs Gehirn, kannte und nahm schon der alte Goethe!« Er versuchte, den Weg zu finden, den er gekommen war. Aber immer wieder stieß er auf eine Mauer, hatte das Gefühl, im Kreis zu laufen, er schwitzte. Gelbes und rotes Laub an den Bäumen, auf dem Boden. Ihm fiel auf, dass er, seit er hier war, in dieser Zeit niemanden gesehen hatte. Wieso besuchte keiner die Toten an so einem schönen Tag? Doch, eine Frau war ihm begegnet, als er vorhin den Hügel hinaufgegangen war. Sie hatte etwas gesungen, er konnte es nicht genau verstehen, und sie verstummte, als sie ihn sah. Eine ältere Frau, aber nicht uralt, sechzig, siebzig vielleicht, schwer zu sagen. Kurze Haare, oder hatte sie eine dunkle Wollmütze getragen? Wollmütze, ja. Vielleicht ein Trauerlied oder so etwas. Sie hatte zu Boden geblickt, als sie aneinander vorbeigingen, als würde sie sich schämen für ihren Gesang, kurz später hatte er sie wieder singen gehört, sehr leise und wie aus weiter Ferne, sich aber nicht noch einmal umgedreht. Er überflog einige der Namen auf den Grabsteinen, verließ den großen Weg und verlor sich in den kleinen
Weitere Kostenlose Bücher