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Im Stein

Im Stein

Titel: Im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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zweiten Abend ging’s um irgendwelche Stasi-Sachen, was soll und kann ich da mitreden …, da ging’s um ’ne Akte, ich glaube um die von AK, dem gelernten Verkäufer, der heute so ’ne große Nummer geworden ist, da haben die beinhart einen vertrimmt, einen von den Security-Typen, weil der wohl zum Ende der Zone über AK irgendwas erzählt hat. Aber am nächsten Abend saß der schon wieder mit am Tresen. Mit ’nem zugeschwollenen Auge. Schien keiner mehr sauer zu sein. Ich hab ’ne Runde Darts mitgespielt und zweihundert Mark verloren. Scheiß drauf. Meine kleine Firma habe ich Ende der Neunziger abgegeben. Die zwei Zimmer habe ich einrichten lassen in der großen Stadt. Mit den Mädels lief’s noch ’ne Weile. War dann aber auch Schluss. Zu viel Druck. Zu viel Konkurrenz. Harte Zeiten.
    Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich den Pott. Ich bin ganz zufrieden. Quatsch mich ja nicht blöd an. Ich bin Randy!

Gesichter
    Er stand vor einer Mauer. Efeubewachsen, Büsche davor, kleinere Bäume. Grabplatten auf dem Mauerwerk oder eingelassen in den Stein. Verwitterte Buchstaben, Namen, Inschriften. Er konnte nirgendwo einen Durchgang erkennen auf die andere Seite. Er war schon zuvor auf weitere Mauern gestoßen, die ihm den Weg versperrten. In einer scheinbar willkürlichen Anordnung verliefen sie über das Gelände, er fand hin und wieder ein Tor, einen Durchgang, einmal sogar eine Art kleinen Tunnel, ein auf beiden Seiten offenes, leeres Mausoleum. Ein Grabgebäude. Wie ein kleiner Tempel im Inneren. Er konnte die Abdrücke der herausgebrochenen Grab- und Ziertafeln erkennen. An beiden Wänden ein langer Sims, ein schmaler Vorsprung, auf dem man wohl sitzen konnte. Er war schnell durch diese offene Gruft getreten, er hörte den lauten Hall seiner Schritte, Laubblätter auf beiden Türschwellen, dann war er auf der anderen Seite. Dasselbe Gelände hinter der Mauer, hinter diesem Tor. Was suchte er hier? Und wie war er hierhergekommen? Er wusste nur, dass er plötzlich vor dem Haupteingang des großen Friedhofs gestanden hatte, den Autoschlüssel in der Hand. Der Wagen eingeparkt auf der anderen Straßenseite dieser schmalen stillen Straße, direkt vor einem Café, Plastiktische auf dem Fußweg, Gäste sah er nicht, auch keine Passanten.
    Er lief den Hang hinauf; durch Gruppen von Tannen, Fichten, Laubbäumen führte der Weg, das Gelände hob sich, ein Hügel vor ihm, er konnte nicht erkennen, wie weit sich der kleine Wald hinzog, je weiter er sich vom Eingangstor entfernte, umso dichter wurde er, Büsche, Bäume, Zierpflanzen, Hecken; und die Steine, die Gräber, große, kleine, mittlere Steine, Gräber, die von niedrigen eisernen Zäunen umgeben waren, Grabfiguren, Statuen, Felsbrocken, in die Namen hineingemeißelt waren und die wie Findlinge aussahen, dann kleine helle Steine über neuen hellen Urnengräbern, riesige Familiengräber, wie Inseln von Bäumen gesäumt oder an den Mauern, die die Friedhöfe, die im Lauf der Jahrzehnte zu einem Zentralfriedhof zusammengewachsen waren, immer noch voneinander trennten, aber durch einige Tore und Durchgänge miteinander verbunden waren, er drehte sich um und konnte hügelabwärts in der Ferne hinter und zwischen den Bäumen den sehr spitzen und sehr schwarzen Turm einer Kirche erkennen, der wie ein dünnes, kahles und astloses Gewächs in den Himmel stach, irgendwo draußen vorm Friedhof stehen musste. Er konnte sich nicht erinnern, diese Kirche, diesen Turm früher einmal gesehen zu haben. Ein schmales, hohes Fenster befand sich unterhalb der langgezogenen Spitze, ein schwarz gerahmtes Blau, ein paar zerfaserte weißgraue Wolken hinter und neben dem Turm, kurz musste er überlegen, in welcher Zeit er sich befand. Selbst der Monat war ihm nicht ganz klar, und es dauerte ein paar Sekunden, bis er sich wiederfand in diesem Oktober des Jahres zehn. Nachmittag. Er hatte seine Uhr vor einigen Stunden abgelegt, als er schwimmen gewesen war, sie musste noch auf der Veranda liegen. Er war nicht in den Pool gegangen, sondern runter zum See gelaufen. Das Wasser war kalt und klar, weit draußen konnte er die bunten Rechtecke und Dreiecke der Segel erkennen. Es war ein schöner Oktober, aber der Wind war frisch und kühl, kam aus den Hügeln am anderen Ufer, die man mit bloßen Augen von hier nur schwer erkennen konnte, geschwungene Silhouetten, die felsiger wurden, je weiter sie sich von der Stadt wegbewegten, ein bewaldetes Bergland, durchbrochen von schroffen Hängen und

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