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Im Stein

Im Stein

Titel: Im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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Verästelungen zwischen den Gräbern. Familie Schuster, Jochen Krien, H. und F. Gehrleben, Familie Leer, Unserer lieben Mutter, 1908–1989, die Liebe währet ewiglich.
    Er dachte selten über den Tod nach. Stimmte das? Der Vermieter der Liebe. Denn die Liebe währet ewiglich. Er lachte. Die ältere Frau konnte auch ein Mann gewesen sein. Sie trug einen hellen, vielleicht grauen Mantel. Oder ein in Würde gealterter Ladyboy, aber ältere Semester dieser Absonderlichkeit waren sicher selten, das würde noch einige Jahrzehnte dauern, bis die jungen Transen alt geworden waren, ununterscheidbar von Männern oder Frauen, je nachdem, die Medizin machte es möglich, er hatte selbst einige wunderschöne Frauen gesehen, die früher Männer gewesen waren und jetzt die Liebhaber dieser Transformation für gutes Geld empfingen. Nur eine Frage der Zeit bis sich welche bei ihm meldeten, weil sie in seinen Wohnungen arbeiten wollten. Aber vielleicht hatte er sich dann schon zurückgezogen aus dem Geschäft. In dieser Zukunft, die nicht so weit weg war. Alt wie ein Baum möchte ich werden … Vielleicht gehe ich deshalb hier spazieren, dachte er, um zu planen, ein wenig in die kommenden Jahre zu schauen. Und so lief er weiter, raschelte mit den Füßen im Laub, dachte an dies, dachte an das, fühlte sich sehr fern von der Stadt, lief mit seiner Großmutter durch das kleine Dorf, trug die Gießkanne auf dem Weg zum Gottesacker, wie sie den Dorffriedhof nannte, versuchte, sich zu erinnern, wie dieses winzige Dorf hieß, das in der Nähe der kleinen Industriestadt war, deren Fabriken und Raffinerien nachts weit übers Feld leuchteten, so dass sie sie sehen konnten, Flammen über den Schornsteinen, seine Großmutter und er, wenn sie am Dachfenster saßen, wo der kleine Fernseher stand. Schwarzweiß. Er würde das gern jemandem erzählen. Seiner Frau? Seinem Sohn? Der ging durch den Wahnsinn anderer Spiele. So wie er früher. Vielleicht war das gut, vielleicht musste das so sein. Wenn er ihm einmal alles übergeben wollte. Die Immobilien, die Firma, das Fitnessstudio. Niemand konnte ihm das wegnehmen. Niemand würde ihm das wegnehmen. Zu viele Jahre. Nach all den Jahren. Zu viel Kraft und Zeit. War das alles?, dachte er manchmal. Und dachte es wieder.
    Er stand vor einer breiten Treppe. Nur wenige Stufen bis zu einer großen Tür, Säulen links und rechts. Er drehte sich um. Hinter ihm ein Wasserbecken, ein rechteckiger, in Stein gefasster See. Es war noch recht hell. Das Licht eines späten Oktobernachmittages. Das Gebäude, zu dem die Treppe führte, ein seltsam geometrisches Gebilde, spiegelte sich auf dem Wasser, eine hohe Front mit einem kuppelförmigen Dach, wie ein großes Eingangsportal. Die Türen zwischen den Säulen geschlossen. Er sah den Abendhimmel auf dem Wasser. Wo war er? Den Turm der Kirche konnte er nirgends erkennen, er bewegte seinen Kopf in alle Richtungen. Zwei Enten auf dem Wasser. Er musste zurück zu seinem Wagen, zurück in die Stadt fahren, die irgendwo weit weg war, zurück zu seinem Büro. Telefonieren. Er griff in die Innentasche seines Mantels und spürte die Packung mit den Ginkgo-Tabletten. Keine Enten auf dem Wasser.
    »Ich hätte nicht gedacht, dass du es sein wirst.«
    Er drehte sich nicht gleich um, die plötzliche Stimme im Rücken, schaute übers Wasser, über die Gräber und Mauern, über dieses sich immer weiter streckende und ausdehnende Areal des Friedhofs, über das er gewandert war. Jetzt war er also hier. »Und wer bist du?«
    Er drehte sich langsam zu dem Gebäude. Ein Mann saß da, auf der obersten Stufe, direkt vor der immer noch geschlossenen Tür. Er trug einen blauen Arbeitskittel und eine Art Schiebermütze, die direkt über seinen Augen lag, die Stirn verdeckte. »Obwohl ich es nicht wirklich glaubte«, sagte der Mann, den Kopf hatte er auf beide Arme gestützt, die Ellenbogen auf den Knien, »dass ihr hierher kommen würdet.«
    »Hierher? Ihr? Ich bin allein.« AK ging ein paar Schritte, bis seine Schuhe die unterste Treppenstufe berührten.
    »So? Bist du das?« Der Mann auf der Treppe zog langsam die Hände unter seinem Kinn weg, legte den Oberkörper nach hinten und blickte AK an. »Haben sie dich ganz allein geschickt?«
    »Und wer, wer hat mich geschickt?«
    »Die Engel.«
    AK ging in die Knie. Legte kurz beide Handflächen auf die Steinplatten des Bodens, die sich warm anfühlten, blickte dem Mann von dort unten direkt ins Gesicht, bevor er wieder aufstand, erkannte nichts,

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