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Im Stein

Im Stein

Titel: Im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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sah nichts, was vielleicht auch daran lag, dass der untere Teil dieses Gesichts von einem kurzen dunkelblonden Vollbart verdeckt war. »Keine Engel«, sagte er, »ich gehe nur etwas spazieren.«
    »So, so. Spazieren geht der große Mann. Und kommt hierher zu mir.«
    »Und wo bin ich? Und bei wem genau bin ich?«
    »Du weißt es nicht, großer Mann? Stehst vor meiner Pforte und sagst, dass du nicht weißt, wo du bist?«
    »Ich sagte dir bereits, dass ich nur spazieren war. Aber nun bin ich hier. Komm doch runter und erzähl mir deine Geschichte. Ich bin ganz Ohr.« Er legte die offene Handfläche an sein rechtes Ohr. Vielleicht war es auch das linke, weil er die rechte Hand frei neben seiner Hüfte behalten wollte. Er war zu alt für diesen Scheiß.
    »Komm du doch hoch, Arnold Kraushaar, und erzähl mir deine Geschichte.« Der Mann saß immer noch auf der Treppe, den Oberkörper zurückgelehnt, die Handflächen auf den Knien.
    »Da du mich anscheinend kennst, kennst du bestimmt auch meine Geschichte.«
    »Mehr als die Legenden, großer Mann. Ich habe dich lange gesehen auf deinen Wegen.«
    »Was also soll das Spiel? Wer bist du. Was willst du.«
    »Das Spiel, das Spiel, Meister Kraushaar. Du bist es doch, die Engel sind es doch, die spielen. Die ewig gleichen Sandkastenspiele, nicht wahr? Das ist meine Burg, und du darfst hier nicht … undsoweiter. Wir machen uns den Markt und die Welt, wie sie uns gefällt.«
    AK ging langsam die Treppe hoch. Stufe um Stufe. Um dem anderen ins Gesicht zu sehen. Um zu erkennen, an was er sich langsam zu erinnern glaubte. »Und«, sagte der Mann mit dem Bart, erhob sich, auch sehr langsam, und sie standen sich direkt gegenüber, getrennt nur durch eine Treppenstufe, »wer sitzt hinter den Spiegeln?«
    »Ich hätte nicht gedacht, dich noch einmal wiederzusehen. Nach all den Jahren.«
    »Und ich hätte nicht gedacht, dass du dich so einkaufst, der große Arnold Kraushaar, bei den Engeln, hinter die Spiegel …, dass mein Kopf dein Eintritt sein wird. Deine Versicherung, dein Geschenk an die neuen Geschäftspartner.«
    »Du irrst dich. Ich gehe meinen Weg. Ohne Engel. Keine Spiegel. Nennen wir es einen Zufall, dass ich hier bin.«
    »Einen Zufall, soso. Wie hast du mich aufgespürt? Wie habt ihr mich aufgespürt?« Der Bärtige ging ein paar Schritte rückwärts, lehnte sich mit dem Rücken an die geschlossene Tür, zwischen die beiden Säulen.
    »Niemand hat dich aufgespürt. Du solltest mich kennen. Auch wenn’s lange her ist. Ich habe immer gedacht, du sitzt irgendwo im Schoß des Staates. Haus, Frau, Kind und mit neuem Namen. Oder willst du mir erzählen, dass sie dich hier untergebracht haben?«
    Der Bärtige lachte. »Nein. Auch wenn das sicher nicht das Schlechteste gewesen wäre. Wer sucht schon den Verräter vor den Mauern. In der Bestattungsbranche. Im großen Flamarium.«
    »Der Verrat«, sagte AK und überlegte eine Weile, um sich den genauen Wortlaut ins Gedächtnis zu bringen, »… liegt wie die Schönheit im Auge des Betrachters.« Er neigte leicht den Kopf, da staunst du, mein Lieber, nicht wahr?, und sah, dass der See sich rosa färbte unter dem Abendhimmel. Es war wirklich, wie man so sagte, ein goldener Herbstabend im Oktober, auch wenn die Farben durcheinandergerieten.
    »Die Schönheit …, da kennst du dich aus, mein Freund, nicht wahr? Aber wenn wir schon dabei sind …, schönreden müssen wir uns nichts. Gar nichts. Du nicht. Und ich sowieso nicht. Ich habe immer gedacht, die Dinge würden sich anders entwickeln, würden anders enden.«
    »Wer weiß schon, wann etwas endgültig zu Ende ist. Ich konnte deinen Schritt sogar verstehen, als ich davon hörte. Nicht mehr, nicht weniger. Vielleicht hättest du hierbleiben sollen, hättest bei mir bleiben sollen …«
    »Vielleicht hätte ich das. Damals. Aber die Engel, die große Fahrt, die großen Geschäfte, die Macht der …«, er lachte wieder und bewegte beide Arme kurz auf und ab, »geflügelten Horde. Das war immer mein Traum. Glaubte ich damals, dachte ich damals. Und jetzt komme ich mit der Tram zurück.«
    »Keiner weiß, dass du hier bist.«
    »Du weißt es.«
    »Ja. Jetzt weiß ich es. Und das ist auch alles. Wie …?«
    »… ich hier gelandet bin, willst du wissen? Das ist keine lange Geschichte. Die Bullen machten mir Angebote, aber ich wusste, dass die nicht mehr sicher waren. Obwohl ich rauswollte und raus war, habe ich immer noch dies und das gehört. Hab mich dann abgesetzt.«
    »Du hast

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