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Im Stein

Im Stein

Titel: Im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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Kämmen. Eine Schnellstraße führte durch das Bergland, vor einigen Jahren erst verbreitert und neu asphaltiert, manchmal fuhr er dorthin um die großen Seen zu den Bergen, den Wäldern.
    Er suchte nach seinem Handy. Dann fiel ihm ein, dass er es im Auto gelassen hatte. Er versuchte, die Uhr an dem Kirchturm zu erkennen, blickte mit zusammengekniffenen Augen gegen das Licht der tiefstehenden Sonne zu der Kirche, an die er sich nicht erinnern konnte, man musste diesen Turm doch kilometerweit sehen, so lang und dünn stach er zwischen den Häusern hervor. War es vier? Er konnte den Stand der Zeiger nur erahnen. Er brauchte wohl auch bald eine Brille für die Ferne, die Lesebrille trug er in einem Lederfutteral in der Innentasche seines Mantels. Er zog sie heraus, hielt sie ein Stück von sich weg und blickte durch eins der Gläser wie durch eine Lupe auf den Turm und die Uhr und sah verschwommen, dass es tatsächlich zehn vor vier war. Ihm fiel die Stille auf. Kein Vogel zwitscherte. Die Stadt war hier nicht zu hören. Er war mit dem Wagen ziellos herumgefahren. Früher hatte er das oft getan, wenn er nachdenken musste, wenn er die Geschäfte überdenken musste, wenn es Probleme gab. Meistens war er dann nachts unterwegs, hörte Radio, den Klassiksender, das entspannte ihn. Investitionen, Immobilien, was machen die Jugos?, soll er die Informationen über die Russin weitergeben?, die ihre kleinen schmutzigen Geschäfte machte, zusammen mit ihrer Tochter, aber das war alles vor mehr als zehn Jahren gewesen. Und ein Strom aus Farben, Erinnerungen, Reisen, Frauen, Scheinen, Geschäften, Häusern, Aktien, Kalkulationen, Geburtstagen, Krisen, Renditen, Angriffen, Weihnachtsfeiern, Lichtern, Frauen, Kurzschlüssen, Son, my son, what have you done , dazwischen. Dazwischen. Wie viele Jahre? Wenn er ziellos durch die Stadt fährt, durchs Zentrum, durch die Randbezirke, rüber in jene andere, kleinere Stadt, in der er auch Objekte hat, Eden City 2, aber die Dörfer werden zu Vororten, die Nachbarstädte wandern und rücken näher, die Verbindungsstraßen werden kürzer und kürzer, die S-Bahn fährt durch einen Tunnel unter der Stadt, er sieht die Baumaschinen und Gruben und die großen schmalen Arme der Kräne, er sieht die Deutschlandfahne flattern im Wind auf dem Dach des Clubs der Madame Gourdan, wie er sie manchmal scherzhaft nennt, er fährt am alten Stadion am Stadtrand vorbei, in dem er früher so viel Zeit verbracht hat, über zwanzig Jahre her, mehr noch, fährt am neuen Stadion vorbei, neben dem Fluss und dem Flutbecken, wo einst die Kinder ertranken, als er am Fenster stand, fährt über die Brücken der kleinen Flüsse und Kanäle, neunzehnhundertneunundneunzig und irgendwo und irgendwann zweitausendzehn. Er hört die Turmuhr läuten. Der Schall der Schläge berührt seinen Rücken, breitet sich aus um ihn, geht durch ihn und verliert sich zwischen Steinen und Bäumen. Er steht vor der Mauer, die den Friedhof oben auf dem Hügel begrenzt, Brachland dahinter, verfallene leere Kleingartenanlagen, Ödland, ein abfallender Berghang, Geröll und Büsche, und dann die grauen Häuser der Vororte, der Vorstadt, der Randstadt, Ausfallstraßen, und rot und rosa rückt der Abend näher. Er läuft an der Mauer entlang, dort vor ihm eine breite Lücke, ein Durchgang, groß wie ein Tor ohne Flügel, er stößt auf einen Bauzaun, vielleicht wollen sie den Friedhof hier vergrößern, ein neues Gräberfeld anlegen, er sieht in einigen hundert Metern Entfernung drei Gestalten auf dem Brachland. Sie bewegen sich inmitten eines großen Quadrates aus rot-weißem Absperrband. Sie scheinen etwas in den Boden der langgezogenen Brache hinter dem Friedhofsgelände zu graben. Hantieren mit Kisten und Apparaturen, die er von hier nicht erkennen kann. Wieder hält er seine Brille wie eine Lupe vor sich. Aber bevor er seine Augen zusammenkneifen kann, hört er einen dumpfen Knall. Kniff die Augen zusammen und sah die drei, die orangefarbene Anzüge trugen, hinter dem Absperrband stehen, in der Mitte des abgegrenzten Quadrats stieg eine weiße, dünne Rauchwolke empor. Noch ein Knall, sehr dumpf, als würde er tief aus der Erde dringen, eine weitere kleine und dünne Rauchfahne, neben der bereits fast verwehten. Er erinnert sich, dass ihm mal jemand von der alten Methode, den Boden mit Hilfe von Sprengstoffen aufzulockern, erzählt hat. Er drehte sich um, ging zurück, immer an der Mauer entlang.
    Er blickte auf das steinerne Gesicht. Direkt vor

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