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Im Stein

Im Stein

Titel: Im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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ihm wuchs es aus der Mauer. Leere Augen, der Mund geöffnet, wie klagend. Schrift darüber, eine Tafel, die Buchstaben und Worte so verwittert, dass er sie kaum lesen konnte. Irgendein Leutnant, jung gestorben, noch vorm ersten Krieg, wie er aus den nur teilweise lesbaren Jahreszahlen entzifferte. Irgendwann zuvor, vielleicht zwanzig, dreißig Minuten, hatte er plötzlich in einer Art kleinem Hof gestanden, durch Mauern abgegrenzt, und in der Mitte des Hofs ragte eine Säule empor, auf der ein rundes steinernes Emblem ruhte, Hammer und Sichel, hinter der Säule eine Reihe von Grabsteinen. Er erinnerte sich, dass er hier einmal als Kind gewesen war, mit seiner Schulklasse, mit anderen Schulklassen, irgendein Gedenktag, vielleicht der achte Mai, der Tag der Befreiung, Pioniere und Blauhemden, Lehrer und Parteisekretäre, Offiziere, und langsam kehrte dieses Bild zurück, als er da stand und auf diese Gräber blickte. Russische Soldaten. Sowjetische Soldaten, so sagten sie damals. Mitte der Siebziger muss das gewesen sein. Reden wurden gehalten. Oder erinnerte sich nur an diesen Gedenkplatz, hatte ihn aber nicht betreten seit damals, jetzt , dieses seltsame steinerne Gesicht vor sich. Auch ein Soldat. Aber im Frieden gestorben. Herz, Krebs, Suff, Selbstmord. Unfall. Duell. Er drehte sich ein paarmal, blickte über die Wege, durch die Bäume, wo war dieser kleine Kriegerhain? War es vielleicht seine Erinnerung an dieses große Schweigen zwischen den großen Reden, die ihn hierher, auf diesen Friedhof am Rand der Stadt gebracht hatte? Stimmen, Gesichter. Warum bist du hier? Er wollte zurück zur Straße gehen, zu seinem Wagen, in sein Büro fahren, nach Hause fahren, runter an den See gehen, aber da hatte er am Vormittag schon gestanden. So weit stimmte das alles. Er dachte an Tokio, dieses neonbeleuchtete Metropolis am anderen Ende der Welt, Roboter und Menschen auf dieser Insel, durch die bald die Strahlung kriecht. Dort war er das erste Mal verschwunden. Im Jahre null. War zurück nach Hause geflogen. Hatte weitergemacht. Jahr um Jahr. Hatte alle Attacken und Angebote überstanden. Jugos, Kanacken, Engel, Politik, Freunde, Russen, Verbündete … Hatte so getan, als wäre alles vollkommen normal. In ihm. Mit ihm. War in den Nächten durch fremde Viertel gefahren. Fand sich in Wiederholungen wieder. Fand Veränderungen. Briefe, die er nie geschrieben hatte, Dokumente, die er nicht haben sollte, Informationen, Kontakte, die ihn verwunderten. Ging zu einem Therapeuten. Ließ sich das Gehirn durchleuchten. Ließ sich die Seele durchpusten. War vollkommen normal. Brachte die Geschäfte voran. Verkaufte seine Aktien, bevor die den Bach runtergingen. Investierte in Immobilien. Verhandelte in Berlin und Hannover. Kaufte Kunst. Trank mit dem Grafen, diesem halben Hochstapler, der ihn immer noch beeindruckte. Und der ihm den Österreicher vorstellte, der früher mal ein Anwalt gewesen war und jetzt einen exklusiven Club betrieb, der ihm ein Vermögen eingebracht hatte, ein Vorzeigeobjekt für die österreichische Bürokratie, ein sauberes Haus, das die Behörden und die Bürger erfreute. Träumte mit ihnen von der Aktie Rot. Champagner. Nein, er hatte vorhin nicht auf diese Gräber geblickt, die gefallenen Helden des Großen Vaterländischen Krieges. Aber er hörte die Musik, die damals gespielt wurde, gesungen wurde, der Chor der Soldaten, als er in seiner Pionieruniform, rotes Halstuch, blaues Käppi, dort gestanden hatte. Leise erst, dann immer lauter, die toten Helden, zerschossene Herzen, zerrissene Lungen, aus denen dieses letzte große Lied … Selbst diesen verrückten Bullen hatte er ausgesessen, als wäre er ein Vollblutpolitiker, diesen hageren Alten, der nicht weit von ihm wohnte und der längst schon kein Bulle mehr war und der ihn mit der Nase, mit der ganzen Fresse in den Dreck hatte drücken wollen. Sollte er im Rathaus wühlen, dieser Wahnsinnige, der doch in seinem eigenen Netz gefangen war, jede Nacht brannte bei ihm Licht, sah er ihn in seinem Wintergarten auf und ab gehen, ruhelos und stundenlang und jahrelang, und sollte er bei den Bonzen wühlen, die jetzt ganze Straßenzüge besaßen. Mit denen er Geschäfte machte, mehr nicht. Alles sauber. Verdammt nochmal sauber. Er hatte Gänsehaut bekommen, als sie die Hymne der großen Sowjetunion gespielt und gesungen hatten. Sein Russisch war immer noch ganz gut. Er könnte die Gedenktafeln und Inschriften der Gräber gut lesen. »… gefallen im Großen

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