Im Stein
Sonne im Gesicht, kurz nach halb eins auf seiner Uhr. Die Glashütte ging immer paar Minuten vor. Und er stellte sie immer ein bisschen zurück, alle zwei, drei Tage. Hatte sie schon zweimal generalüberholen lassen. »Das ist normal«, hatte der alte Uhrmachermeister, der vor Hunderten von Jahren in Glashütte gelernt hatte, gesagt, »das ist das alte Spezimatic-Laufwerk …«
»Aber die hat Erich Honecker persönlich …«
»Sind Sie da sicher«, sagte der alte Uhrmachermeister, die Lupe im linken Auge, beugte er sich über das geöffnete Gehäuse.
»Vollkommen sicher«, sagte Hans, »schauen Sie doch auf die kleinen Brillanten links und rechts auf …, auf den Halterungen fürs Armband, und da sieht man auch die Initialen.«
»In der Tat, ein schönes Stück.«
»Sag ich doch.«
Hans hielt die Uhr an sein rechtes Ohr. Er bewegte den Arm hin und her und hörte das leise Rascheln des Spezimatic-Laufwerkes, das jede Bewegung registrierte, auffing und in Energie umwandelte. So würde er es formulieren. Und das leise stetige Ticken der Glashütte in seinem Ohr, blickte er über die Pannierstraße.
Bäume wuchsen in regelmäßigen Abständen auf beiden Seiten der Straße. Daddelbuden wie in der Flughafenstraße konnte er keine erkennen. Früher hatte er ab und an gezockt und gedaddelt. Nichts Besonderes. Nur um die Nerven zu beruhigen. Automaten, Roulette, Poker. Nichts Besonderes, hatte auch nach einigen Jahren die Lust dran verloren. Kostete nur Zeit. Hatte AK nicht mit zwei Spielhallen begonnen, damals, in den ersten Jahren nach der großen Wende? Das Sonnenlicht zerfaserte sich in den Baumwipfeln, die Straße sah still und ruhig aus, und er schaute noch einmal auf die Annonce, die er aus der Zeitung gerissen hatte, und verglich sie mit den Hausnummern. Na, dann wolln wir mal, dachte er und lief los.
Im »Sweet Life« entschied er sich für eine blonde Russin. Der Laden lag ebenerdig, die Tür direkt neben dem Fußweg, er hatte geklingelt, es hatte gesummt, und die Chefin, Mitte fünfzig, die ihn mit »Hallo, junger Mann« empfing ( Was soll’n das jetzt? ), führte ihn in einen kleinen Raum der ausgebauten Kellerwohnung, wo er auf einem Sofa Platz nahm, ein Couchtisch davor, auf dem ein Strauß Blumen stand ( Ja, ja, Schweine-Hans, der kann’s … ), dann die Parade der Mädels, die Chefin stellte sie vor, fünf Mädels, die blonde Russin kam als Dritte, »Das ist unsere Tanja, eine ganz liebe Perle«, Tanja, in Slip und BH, Badewetter, blieb lächelnd vor ihm stehen, drehte sich einmal, drehte sich zweimal, stütze die Hände in die Hüfte, suchte Blickkontakt, er nickte ihr zu, und sie verschwand wieder.
Später versuchte er, sich an die anderen vier Mädels zu erinnern. Und wie die Chefin sie ihm vorgestellt hatte. Eine frauliche, leicht mollige Türkin. Aisha? Hießen nicht die meisten Türkinnen in der Branche Aisha ? Eine dünne blonde Deutsche, eine dunkle Kroatin mit Schmollmund … Er hatte gleich gewusst, dass es Tanja sein würde, oder wie immer sie auch hieß. Wann war ich eigentlich das letzte Mal privat in einem Laden, dachte er, während er duschte. Er hatte sich für das Spiegelzimmer entschieden. Tanja hatte ihn durch die Zimmer geführt. Ja, das Spiegelzimmer war nicht übel, so ähnlich wie das Spiegelzimmer bei ihm. ’n Spiegelzimmer ist ’n Spiegelzimmer, wenn’s nicht zu klein oder zu versifft ist. Die Spiegel müssen permanent gesäubert und gepflegt werden. Und zwar so, dass sie keine Schlieren kriegen, zu scharf darf das Zeug auch nicht sein, vor allem die Deckenspiegel sind aufwändig, da stand er oft selbst mit dabei, wenn seine Putzbrigade sich um sein Spiegelzimmer kümmerte. Wie hieß der Typ gleich nochmal, der ihm das damals eingerichtet hat? Der hatte alle oder fast alle Spiegelzimmer in der Stadt, in der Nachbarstadt und in der Region eingerichtet. Hatte das Spiegelmonopol. Obwohl es so wahnsinnig viele Spiegelzimmer ja nicht gab. War dann irgendwann verschwunden. Mit der Firma weitergezogen, umgesattelt oder sich zur Ruhe gesetzt. Aber eigentlich kannte er keinen, der sich zur Ruhe gesetzt hatte. Da muss man schon ’ne ganze Menge auf der Kante haben, und einen guten Grund braucht’s auch. Das Geld fließt und fließt, meist in beide Richtungen, rein und raus, das alte Spiel, und wir waren, und wir sind, und wenn man seinen Platz hat im großen Spiel, geht es weiter … Immer weiter. Was sollte man auch sonst tun. Am Strand liegen? Jeden Nachmittag Torte
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