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Im Stein

Im Stein

Titel: Im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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Arbeitsbedingungen hätte. Und er will sie doch nur wiedersehen. Und er weiß, dass die Arbeitsbedingungen nichts ändern. Weil er dreiundneunzig nicht auf sie aufgepasst hat, weil er sie dreiundneunzig nicht beschützt hat, weil er dreiundneunzig nicht mit einer Panzerfaust in diese Hölle im dritten Stock rein ist. Und weil sie keine Wahl hatte. Und weil sie noch ein Kind war. Er hat die Knarre oft genug an seinem Kopf gehabt. Auch als der Rummel hinter ihm flackernde Lichter aufs Wasser warf. Aber er kann nicht so einfach verschwinden. Klack klapp klack. Hufe klappern in der großen leeren Bahnhofshalle, fast schon zwölf. Keine Züge mehr nach Berlin. Wieso verlängern sie den Tunnel, der unter seinen Füßen vibriert, nicht gleich bis in die Hauptstadt? Eine U-Bahn, eine U-Bahn, eine U-Bahn bauen wir …
    An der Synagoge standen sie. Am S-Bahnhof stehen sie. Die meisten sind jünger, als sie jetzt ist. Der Tscheche hat gesagt, er soll nach Charlottenburg schauen, und meinte den Kurfürstendamm, ist das nicht Schöneberg?, Bahnhof Zoo, zumindest alles in der Nähe, gibt auch noch die Kurfürstenstraße, da irgendwo wäre so ein alter Sack, der hat eine Kleine aus dem Osten, die könnte deine sein, ich geb dir gerne paar Infos, eine Hand … undsoweiter, dass er jetzt noch Mitte abklappert, hat mit anderen Informationen zu tun, die er sammelt und sammelte in all den Jahren. Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin …
    Er geht an Menschen vorbei, Wochenendmenschen, Touristenmenschen, die Kneipen sind geöffnet und leuchten auf die Straßen, er sieht die Frauen und Mädchen an den Hauswänden, am Straßenrand, auf Verkehrsinseln. Er schaut in die jungen Gesichter, ein paar alte Gesichter dazwischen, die Körper in Röhren und Hülsen gezwängt, sie biegen sich im Sommerwind, oder ist schon Herbst, ein goldener Oktober, Indian Summer, wie der Ami sagt, er hat ein Foto von ihr in seiner Geldtasche, nein, er hat es schon längst dort rausgenommen und in die Brusttasche seines Jeanshemdes gesteckt, er trägt seinen Trenchcoat überm Jeanshemd, wie immer, das Foto hat er sich laminieren lassen in einem Schreibwarengeschäft in Berlin, weil’s in seinem Schreibwarenladen sowas nicht gab und er auch nicht wusste, dass so etwas möglich ist, bevor er die Werbung im Schaufenster dieses Schreibwarenladens in Berlin sah. Wo er jetzt zwischen Mitte und Kurfürstendamm hin und her stolpert. Die Kuppel des Bundestages verschwindet und leuchtet in der Sonne. Er kennt sich nicht aus in dieser Stadt, zwischen den Jahren. Früher war er oft im Hoppegarten gewesen, die langen Nachmittage der Reiter, manchmal war seine Frau mit dabei, und sie im Sportkinderwagen, eine bunte Decke gegen den Wind, wenn Herbst war, und es war oft Herbst, weil in dieser Jahreszeit die Rennen magisch werden, wenn die Sonne tief steht, er spürt den weichen Boden unter den Hufen, sieht die Farben der Bäume und Wälder aus den Augenwinkeln, wie feuchter Ackerboden, hört das dumpfe Trommeln der Hufe, legt sich und schmiegt sich und dehnt sich, auf den warmen Körper, an den warmen großen Körper, sein Körper liegt lang überm Sattel, überm Hals, die Peitsche zwischen den Fingern, die Lederbänder zwischen den Fingern, als er auf der Zielgraden die Peitschenschläge intuitiv zählt, diese kurzen Aufforderungen, fliegt er, fliegen sie, während er sie nach außen dirigiert, lenkt, dort ist die Lücke, der freie Raum, die Spur, wenige Sekunden der Entscheidung, der Boden ist zerwühlt von den Hufen der vorangegangenen Rennen an diesem Nachmittag, auf der äußeren Spur wirst du gewinnen, das weißt du und spürst und siehst, dass du nur noch zwei, drei Gegner, Reiter, Pferde überwinden, überfliegen musst …, und denkst (im Nachhinein?), dass sie beide da am Zaun stehen und dich anfeuern, dieser dunkle Geruch nach Erde und Gras und Tieren, Leiber, die verschmelzen, er ist nass und schmutzbedeckt nach dem Rennen, sie galoppieren aus, nach dem Ziel, langsamer werdend, um den Bogen herum, an der Tribüne vorbei, und er weiß nicht genau, ob er Erster, Zweiter oder vielleicht nur Dritter geworden ist, das Pferd, dessen Namen er schon längst vergessen hat, macht sich lang, streckt den Hals, weil er sich mit ihm streckt und es mit Händen und Bändern dirigiert, streckt seinen langen Leib ins Ziel, über diese unsichtbare Linie, auf der kurz die Zeit stehenbleibt, aber er spürt und sieht aus den Augenwinkeln, wie sich zwei andere Leiber neben ihm strecken,

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