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Im Stein

Im Stein

Titel: Im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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Emil Volkers verkauft, den er von einem alten Zocker bekommen hatte, vor fast fünfzehn Jahren. War ein schönes Bild. Zwei Pferde, ein braunes und ein weißes, galoppierten mit ihren Reitern durch eine grüne Hügellandschaft. Manchmal träumt er noch von diesem Bild. Er sitzt auf einem alten Pony und versucht, den Pferden zu folgen. Die Reiter drehen sich um und lachen. Die bescheidene Erbschaft seiner Mutter ist fast aufgebraucht. Er weiß nicht, wie es mit der Scheidung steht und wem er da noch Geld schuldet. Seine Ex-Frau ruft er jede Woche an und fragt nach seiner Tochter. Sie weiß nichts. Oder sagt nichts. Will nur Geld. Er wohnt in der Wohnung eines Freundes, der vor ein paar Jahren gestorben ist. Magendurchbruch. Ex-Jockey. Manchmal denkt er, dass er sie erschießen muss. Weil sie das alles zugelassen hat. Weil sie nicht aufgepasst hat auf sie, als er nicht aufpassen konnte. Er hat die Knarre auch schon an seinem Kopf gespürt, als würde sie ein Fremder dagegen pressen. Als er sie in den Fluss schmeißen wollte, hinter sich die Lichter des Rummels. »Die ist nicht mehr im Geschäft«, hat ihm der Typ erzählt, als er an dem anderen Imbiss stand, in der Nähe der Kurfürstenstraße, wo der Bahnhofsvorplatz und die Straßenecken nach Pisse rochen, dass er es kaum aushielt. Aber Kurfürstenstraße und Kurfürstendamm sind doch ein ganzes Stück auseinander, oder?, oder?, Frankfurt/Main, Bahnhofsviertel, wo hat er nur die Pläne der Städte, scanne die Straßen, scanne die Menschen, scanne die Haut … Türkenkanacken, nee, Libanesen im Mercedes Benz kreuzen die Kurfürstenstraße.
    »War früher immer hier, immer unterwegs, war sehr beliebt. Sind viele wegen ihr gekommen. Die hat sich ganz schön Ruhm erfickt. Rumgefickt, verstehste, nun lach doch mal. Weil doch die Ostweiber besser ficken, sagt man doch, nicht wahr?, Alter?, und weil die alles machte. Spitzen-Service. Die lief für Kurti, wenn dir das was sagt.«
    Er hätte auch den am liebsten erschossen, nicht Kurti, der ihm nichts sagte, den auch, wenn das alles wirklich stimmte, was dieser Typ ihm erzählte. Ihn wollte er am liebsten umlegen, den Schwätzer, den Currywurst-Fresser, dem der Ketchup schon in den Mundwinkeln festtrocknete. Der jedem Mädel hinterherglotzte und jedem jungen dürren Kerl. Minirock, enge Hosen, kurze Pullis, regennasse Haare, Beate-Uhse-Center, Wichskabinen, Fußballkneipen, graue flache Plattenbauten, Schlecker, verwirrte Penner mit steifen Jeans, beklebte Schaufenster, blaue Neonschrift, Dönerbuden, Wettbüros, Taxis nach Tegel, Flughafenstraße, Mülleimer, Mülltüten, Stadtrundfahrten, Millionen Zigarettenkippen neben dem Bordstein, kleine Füße, große Schuhe, Sport, Krampfadern, eine Frau mit Schnurrbart, Flachmänner, Mutter Beimer, Transe mit Beule in der Hose, blau-weiß gestreifte Tüten, Schultheißeck, Kindl, fünfzig Jahre und kein bisschen …, Zeitungskiosk, Minirock, Lederhaut, Videokabinen, Müllermilch, Autos am Straßenrand, laufende Motoren, nachts unterwegs, Weltzeituhr, Mitte, Zoo, Mädchen, Stoffkügelchen, Papierkügelchen, Billig-Rum, Reisebüro, Keller mit U-Bahn-Anschluss, »Wo is Kugel, wo is Ball«, Neutrinos im Licht der Laternen, Mädchen, Jungs, alte Frauen, »Alles muss raus!«, Achtziger, Neunziger, größte Hits, Grüße aus der Kneipe, Licht in der Nacht, Licht am Morgen, August, altes Bullenauto, Billig-Friseur, der zerbrochene Turm einer Kirche hinter den Häusern, Dämmerungen, Hair-Cut. »Ich komm vom Dorf«, sagt er. (Viel später erfährt er, dass das Mädchen, das er für seine Tochter hielt, vom Dorf kam.)
    Um die große dunkle Kirche reitet er immer und immer wieder. Setzt sich dann auf eine Bank. Weil ihm schwindlig ist. Im Kreis herum, im Kreis herum. Wenig Licht, zwischen den Bänken, zwischen den Bäumen. Die dunkle Kirche. Der Norden der Stadt. Wo er sie seit Jahren immer wieder sucht. Wo er sie suchte, bevor er bis hoch zum Meer fuhr, Rostock, bis weit in den Osten in die Stadt an der Grenze. Bis nach Berlin, wo sie den Bundestag aus Glas und Stahl und Beton bauen, um neue Gesetze für die Huren zu verabschieden. Klapp klack klapp. Er reitet durch seine Erinnerungen, während er den Torbogen der alten leeren Schule beobachtet, die schwarz ein Stück neben der Kirche liegt. Wo die Mädchen manchmal stehen. Erst Jahre später, in the year 2525, hat er begriffen, wie alles zusammenhing; in seiner Stadt, hinterm Bahnhof, an der Kirche im Norden, glaubte er zu verstehen,

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