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Im Stein

Im Stein

Titel: Im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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wahrscheinlich denkt, das ist eine Kanone, eine von diesen langen Schalldämpferknarren, plopp, plopp, er schaltet die Maglite an und leuchtet den beiden Mädchen direkt ins Gesicht, viel zu jung, viel zu jung, er sieht und hört den Wagen wegfahren, sieht, wie sie ihn mit großen, aufgerissenen Augen anschauen, ins Licht seiner Maglite blicken, weiße Gesichter, kein Solarium, Pickel auf der Stirn, kaum zugeschminkt, sie drehen sich weg, überlegen wohl, ob sie einfach abhauen sollen, in der Dunkelheit verschwinden, vor diesem kleinen, abgehetzten Mann, der doch unmöglich ein Bulle sein kann, und als sie das dann merken, kein Bulle, nur er allein mit seiner langen Maglite, fangen sie an, ihn zu beschimpfen: »Blöder Wichser, vertreibst uns die Kundschaft, schwule Sau«, ihm ist aufgefallen, dass sie in den Wohnungen das Wort »Gäste« bevorzugen, »Kunden und Kundschaft gibt’s beim Fleischer«, hat ihm mal eine nette mittelalte Hure gesagt, bei der er vor einigen Jahren gewesen ist, das Bild seiner Tochter als Vorwand für diese Flucht aus der Einsamkeit, die Frau kam aus Polen, war zumindest dort geboren, er hat im Internet von ihr gelesen, ja, das war dieser Ecki, diese Legende, dieser Alles-Schecker, nix geht mehr bei Schlecker (also diesem Drogeriemarkt, Mondos und Gleitcreme, wozu nur, ach, wozu nur), meine Fresse, was er alles nicht weiß, und da saß er dort rum, wie ein dummer Schüler saß er bei der Polin auf der Bettkante, die ihm erzählte, dass sie Krebs hat, Innendrinnen-Krebs hat, und da glaubte er zu verstehen, warum sie AV so offen in ihrer Annonce anbot, oder hat sie ihm das auch erzählt, weil sie ja Krebs hatte, angeblich , denn er glaubt längst nicht mehr alles, was sie erzählen, da drinnen, vorne, GV, und sie gab ihm, nach OV, das hat sie ihm förmlich aufgezwungen, gab ihm dann später eine kleine Tüte mit Erdnüssen mit Schokoüberzug, polnische Erdnüsse mit Schokoüberzug, mit polnischem Namen auf der Tüte, die knistert heute noch in seiner Manteltasche, gut geschmeckt haben die, und die Frau hat gejammert die ganze Zeit, wo sie herkommt, wo sie … herkommt und wo sie gewesen ist. Dass sie da, irgendwo an der Grenze, Grenzstadt, Grenzfluss, dass sie in diesem Haus über Monate und länger, viel länger noch, kein Sonnenlicht gesehen hat. Und erzählte dann später, am selben Abend, in derselben Nacht, diese Stunde, diese fünfzig Minuten, »Nein, nein, ich hab noch zehn«, vergingen, als wäre sie jenseits von … Eden City, die Stadt des Vergessens. (So hieß ein Buch, das er in den Achtzigern gelesen hat, irgendwas Utopisches, später sagte man »Science-Fiction« .) Zeit, Zeit, vergiss, reit durch den Abschaum, aber das war so eine nette und liebe Frau gewesen, dass er sich neben sie legen wollte und schlafen. Schlafen.
    Und da schlief er wirklich. Ist eingeschlafen neben ihr. Die trocknende Wichse auf seinem Trenchcoat aus Berlin, aus der Hauptstadt. Dabei hatte er den ein paar Tage zuvor erst in der Reinigung gehabt.
    »Sie haben da noch was in der Manteltasche.«
    »Hab doch alles leer geräumt.« Das war in den guten Tagen, als er noch eine Reinigungskarte besaß, als er seine Hemden und Pullover immer in diese Reinigung brachte. Das war so eine Kette gewesen, sie hatten einige Filialen in der Stadt, und eine war gleich neben der Bude, in der er damals wohnte. »Sie haben da noch was in der Manteltasche.«
    Und er greift in den Mantel, wühlt in den Taschen, findet eine Tüte, halbleer, mit schokoladeüberzogenen Erdnüssen. Mit der Karte konnte er preiswert reinigen lassen, eine Bonus-Karte. Bonus-Bums-Karte. Ein Stempel für jeden Fick. Bumm bumm bumm. Das geht ihm durch und durch. Er hat mal gehört, dass sie früher den Boden, den sie bestellen wollten, mit Hilfe von Sprengstoffen aufgelockert, umgegraben haben. Sowas war damals noch üblich.
    Wenn er durch die Straßen der Hauptstadt und durch die Straßen der Stadt läuft, knistert die fast leere Naschtüte in seiner Manteltasche. Ich fiel in ein Delirium aus Angst. Hab doch alles leer geträumt.
    Er erinnert sich an die Container bei Rostock. Diesen Containerpuff bei Rostock. Wie ist er dahin gekommen, und war das nicht Mitte der Neunziger gewesen, oder sechsundneunzig oder siebundneunzig. Als kurz darauf dort das große Umlegen begann. Wer reitet so spät nach seinem Kind. Er denkt, dass irgendwas mit den Zeiten nicht stimmt. Als es das Schwein hier in der Stadt erwischt hat, das muss neunundneunzig gewesen sein,

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