Im Strudel der Gefuehle
Oder vor Schmerzen laut schreien, wenn Monate später das aus ihnen herauswill, was jemand anderes in sie eingepflanzt hat.«
»Jemand hat dir einen Haufen Unfug erzählt. So ist es ja nun wirklich nicht.«
»Jedenfalls nicht für einen Mann.«
»Für eine Frau auch nicht.«
»Und aus welcher reichen Quelle der Weisheit beziehst du deine Kenntnis?« fragte Jessica erbittert. »Hast du schon einmal einer Frau bei der Geburt beigestanden?«
»Natürlich nicht. Genausowenig wie du. Reich mir doch mal die hellblaue Schleife dort.«
»Habe ich wohl«, entgegnete sie, ergriff die Schleife und hielt sie Wolfe hin.
»Wie bitte?« Ich kann mir kaum vorstellen, daß Victoria das erlaubt hat.«
»Das war, bevor ich zu ihnen gezogen bin.«
Wolfes Hand hielt kurz inne. Dann nahm er die Schleife und begann sie ihr in den Zopf zu binden.
»Du warst erst neun Jahre alt, als Lady Victoria zu deinem Vormund ernannt wurde. Was hatte so ein junges Mädchen bei einer Geburt zu suchen?«
Jessica zuckte die Achseln. »Ich war die Älteste. Meine Mutter hatte noch mehrere Geburten durchzustehen, bevor die Cholera ihrem Leben ein Ende gesetzt hat.«
»Du hast mir nie erzählt, daß du noch Brüder und Schwestern hast.«
»Habe ich auch nicht.« Ein unkontrollierbares Schaudern überlief Jessica, als die alten Erinnerungen in ihr wach wurden; Erinnerungen, die sie schon Vorjahren in ihre schlimmsten Alpträume verbannt hatte.
»Jessi«, sagte Wolfe. Mit der Fingerspitze berührte er sanft die Biegung ihres Halses. »Ein junges Mädchen begreift oft nicht, was sie sieht, besonders wenn es sich um das Geheimnis der Geburt oder um Sex handelt. Aber wenn es wirklich alles so schlimm wäre, würde keine Frau mehr als ein Kind bekommen wollen.«
»Jedenfalls nicht mit Absicht. Ist dir noch nie aufgefallen, mein bester Wolfe, daß Männer nicht nur wesentlich stärker sind als Frauen, sondern auch viel öfter in Stimmung?« Unvermittelt fuhr sich Jessica mit beiden Händen über die Arme, um ihre kalte Haut zu massieren. »Du hast recht. Es ist kühl hier drinnen. Wo hat wohl Betsy meinen chinesischen Schal abgelegt? Siehst du ihn irgendwo, Wolfe?«
Einen Atemzug lang gab er keine Antwort. Dann fand er sich seufzend mit dem plötzlichen Themawechsel ab. »Ich hole ihn dir, sobald ich dein Haar geflochten habe.«
Jessica drehte sich um und sah Wolfe über die Schulter hinweg an. Sie lächelte, aber ihre Lippen waren farblos. »Danke, Mylord.«
»Ich bin kein Lord.« Der Einwand kam automatisch, doch sein Ärger war verflogen. Er hatte die Angst in ihren Augen gesehen, und den Ausdruck der Dankbarkeit, der sich darunter verbarg.
»Danke, mein Liebster.«
»Dein Liebster bin ich genausowenig. Eine Frau teilt mit ihrem Mann das Bett. Oder hast du vielleicht vor, dich an das schottische Ehegelöbnis zu halten, das wir voreinander abgelegt haben?«
»Wie bitte?«
»Mit meinem Körper werde ich dir beistehen«, zitierte Wolfe leise. »Hast du vor, mir mit deinem Körper beizustehen, meine Liebste?«
Jessica drehte sich ruckartig um, doch es gelang ihr nicht zu verhindern, daß Wolfe den Ausdruck des Entsetzens in ihren Augen sah. Zu wissen, daß er sie als Mann abstieß, ließ kalte Wut in Wolfe aufkommen, die genauso tief saß wie das Begehren. Zu wissen, daß er jetzt eine Waffe besaß, um Jessica zur Annullierung der Ehe zu zwingen, hätte ihm eigentlich Freude bereiten müssen, aber dem war nicht so.
»Was wäre, wenn ich auf meinen ehelichen Rechten bestehen würde?«
Sie zuckte zusammen, sagte aber sofort: »Das würdest du nicht wagen.«
»Du bist dir deiner Sache ziemlich sicher.«
»Du wolltest mich nicht heiraten. Wenn du mir jetzt deinen Willen aufzwingst, kannst du nicht nach Annullierung schreien.«
Wolfes Gesicht verzog sich zu einer Miene der Bitterkeit. »Ihr habt recht, Lady Jessica. Ich würde mich Euch nie aufzwingen. Ich will mir nicht für den Rest meines Lebens eine Person aufhalsen, die so verwöhnt und hilflos ist, daß sie sich nicht einmal allein die Haare kämmen kann.«
Mit wenigen, ungeduldigen Bewegungen band er die Schleife in ihr Haar.
»Wolfe, ich...«
»Pack jetzt deine Sachen«, unterbrach er sie. Mit grimmiger Freude sah er den Ausdruck der Überraschung und Unsicherheit in ihren Zügen. »Du weißt nicht, wie man einen Koffer packt? Na, so was! Dir bleibt nicht mehr viel Zeit, Jessica. Die Postkutsche geht in einer Stunde. Und du wirst mitfahren, ob mit oder ohne deine sechs
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