Im Strudel der Gefuehle
stellte Jessica fest, daß sie nicht an das Schlüsselbund herankam, das sie auf dem Nachttisch abgelegt hatte. Auch konnte sie den Koffer nicht näher heranziehen. Ihn zu schieben, schien mehr Erfolg zu versprechen. Keuchend schob Jessica zuerst mit der Schulter und dann mit den Händen. Langsam rutschte der widerspenstige Koffer auf den Nachttisch zu. Dann verfing sich eine der messingbeschlagenen Ecken des Koffers an einer Unregelmäßigkeit im Fußboden. Sie gab ihr Letztes, aber der Koffer rührte sich nicht von der Stelle.
Die Vorstellung, Wolfe könnte hereinkommen und sie an einen ihrer widerspenstigen Koffer gefesselt vorfinden, verlieh ihr noch einmal verzweifelte Kräfte. Sie drückte gegen die obere Kante des Koffers und versuchte, ihn so freizubekommen.
Plötzlich und ohne Vorwarnung kippte der schwere Koffer um und rollte auf die Seite. Jessica verlor den Halt und begann zu taumeln. Ein Aufschrei des Entsetzens entfuhr ihr, als sie Hals über Kopf mitgerissen wurde und in einem wirren Knäuel aus weichem, blauen Stoff landete.
Eine Sekunde später flog die Tür auf. Mit einem langen, gefährlich funkelnden Messer in der Hand stand Wolfe im Eingang zu ihrem Hotelzimmer. Die stählerne Klinge stand in krassem Gegensatz zu seinem modisch geschnittenen dunklen Wollanzug und seinem weißen Leinenhemd.
»Jessi, wo bist du?«
Zähneknirschend fand sie sich damit ab, daß es jetzt für sie keinen Ausweg mehr gab.
»Hier drüben.«
Wolfe kam ins Zimmer. Er schaute in die Richtung, aus der ihre Stimme kam, und entdeckte den umgekippten Koffer und das Knäuel aus blauem Stoff, duftiger Unterwäsche und zierlichen, blauen Schuhen. Mit drei langen Schritten war er bei ihr.
»Bist du in Ordnung?«
»Alles bestens«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen.
»Was tust du hier auf dem Fußboden?«
»Packen.«
Wolfes schwarze Augenbrauen fuhren überrascht in die Höhe. »Es geht einfacher, wenn der Koffer nicht auf dem Kopf steht.«
»Ach wirklich?«
Wolfes Augen verfolgten Jessicas langen, roten Zopf bis zu der Stelle, wo er im Koffer verschwand. Er wollte noch etwas sagen, mußte aber so lachen, daß er kein einziges Wort herausbrachte.
Normalerweise entlockte Wolfes Lachen Jessica wenigstens ein kleines Lächeln; diesmal jedoch nicht. Dieses Mal brannten ihre Wangen vor Wut und Demütigung.
»Wenn du dich nur sehen könntest - wie ein Fisch an der Angel...« Wieder gingen Wolfes Worte im Gelächter unter.
Jessica lag auf dem Boden und wünschte sich nichts sehnlicher, als an den Koffer mit den Gewehren heranzukommen. Unglücklicherweise waren die Gewehre ebenso unerreichbar wie die Schlüssel.
Grinsend steckte Wolfe das Messer weg und machte sich daran, Jessica zu helfen. Er ergriff ihren Zopf und zog erst vorsichtig daran und dann ein bißchen fester. Ohne Erfolg. Sie war tatsächlich eine Gefangene ihres eigenen Zopfes.
»Der Schlüssel«, sagte sie nachdrücklich, »liegt auf dem Nachttisch.«
»Geh nicht weg, mein Elfchen. Ich bin gleich wieder da.«
Als Wolfe einfiel, daß Jessica ja gar nicht weglaufen konnte, mußte er gleich wieder laut lachen. Es schien ziemlich lange zu dauern, bis er sich neben ihr hinhockte und einen Schlüssel nach dem anderen am Schloß ausprobierte. Der Umstand, daß er in unregelmäßigen Abständen lachen mußte, verlangsamte den Vorgang beträchtlich.
Als Wolfe sich zum dritten Mal vom Lachen geschüttelt gegen den Koffer lehnte, riß Jessica ihm kurz entschlossen die Schlüssel aus der Hand und öffnete selbst das Schloß. Doch damit war sie immer noch nicht frei. Sie konnte den Deckel nicht aufmachen, solange der Koffer umgekippt dalag. Genausowenig konnte sie ihn ohne fremde Hilfe umdrehen. Alles, was sie tun konnte, war, ihren lachenden Gatten zur Seite zu stoßen.
Was sie auch ohne zu zögern tat.
Wolfe fing den Sturz mit katzenhafter Geschmeidigkeit ab und erhob sich lachend. Dann drehte er den Koffer um, klappte den Deckel auf und zog Jessicas Haare heraus.
»Das gehört dir, wenn ich mich nicht irre«, murmelte er, als er ihr den Zopf in die Hand drückte.
Mit zitternden Fingern griff sie danach, während sie sich insgeheim wünschte, Wolfe an die Kehle zu springen. Der Ausdruck in seinen Augen verriet ihr, daß er genau wußte, woran sie gerade dachte.
»Nichts zu danken«, sagte er ernsthaft.
Verunsichert drehte sie sich um und schlug den Deckel des Koffers zu, drehte den Schlüssel um und wandte sich dann dem sechsten Koffer zu. Als sie ihn
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