Im Strudel der Gefuehle
Morgendämmerung und nicht die körperliche Erschöpfung war, die das gesunde Leuchten ihrer Haut ausgelöscht und tiefe Schatten unter ihren Augen hinterlassen hatte.
Aber er wußte genau, daß er nicht das Licht für ihren Zustand verantwortlich machen konnte. Eine Reise mit der Postkutsche war selbst für ausgewachsene Männer eine Quälerei. Für eine junge Frau, die daran gewöhnt war, in einem Damensattel zu reiten, mußte eine Fahrt mit der Postkutsche eine unzumutbare Belastung darstellen.
Verdammt noch mal, Jessi. Warum gibst du nicht einfach auf und gehst dorthin zurück, wohin du wirklich gehörst?
Doch noch während Wolfe dieser Gedanke durch den Kopf ging, strich er unwillkürlich Jessica das Haar aus dem Gesicht. Seine Geste war zärtlich und rücksichtsvoll. Sie sah aus, als wäre sie aus Porzellan; hilflos gegen eine Welt, die stärker war als sie selbst.
Unvermittelt schlug Jessica die Augen auf und schaute Wolfe an. Sogar das schwache Licht der Morgendämmerung konnte nicht ver-
bergen, wie sehr sie sich erschreckte, als sie bemerkte, daß sie jemand so vertraulich in den Armen hielt.
»W... Wolfe?«
Hastig und nicht gerade sehr rücksichtsvoll setzte Wolfe Jessica auf die gegenüberliegende Bank, zog sich den Hut tiefer in die Stirn und beachtete sie nicht weiter. Es dauerte nicht lange und er war fest eingeschlafen.
Verschlafen und verwirrt starrte Jessica ihren Mann an und versuchte sich zu erinnern, wo sie war und wie sie hier hingekommen war. Sie war in Wolfes Armen erwacht, nachdem sie in einer unbequemen, zugigen Ecke der Kutsche eingeschlafen war. Sie beschloß, die Vorhänge zu öffnen und nachzusehen, wo genau sie sich im Moment befanden.
Die Morgendämmerung begann sich schwach am Rand des Horizonts abzuzeichnen, ln alle vier Himmelsrichtungen erstreckte sich die flache, triste Landschaft. Mit Ausnahme der vereisten Spuren, wo sich die Räder der Kutsche in den Erdboden vergraben hatten, war nirgendwo etwas Besonderes zu erkennen. Nirgendwo waren Spuren menschlicher Besiedlung zu sehen. Nirgends stieg Rauch auf. Nirgends standen Zäune oder waren Straßen zu sehen, die zu einsamen Häusern oder Farmen geführt hätten.
Zuerst war Jessica vom völligen Fehlen jeder Vegetation und Besiedlung fasziniert. Nach einer Weile war sie jedoch wie betäubt von der ununterbrochenen Eintönigkeit der Landschaft und vom eisigen Wind, der durch die Ritzen in den Vorhängen blies.
Sie rutschte auf dem unbequemen Sitz hin und her und bemühte sich, aufrecht zu sitzen. Seitdem sie St. Joseph verlassen hatten, war die Zeit wie im Flug an ihr vorbeigegangen. Sie hätte nicht sagen können, ob sie seit drei oder seit fünfundfünfzig Tagen unterwegs war. Tage und Stunden gingen ohne spürbare Unterbrechungen ineinander über. Wolfe hatte darauf bestanden, daß sie Tag und Nacht unterwegs waren und im Sitzen schliefen. Sie stiegen nur dann aus, um dem Ruf der
Natur zu folgen, wenn die Pferde an einer der armseligen Stationen gewechselt wurden, die die lange Strecke nach Westen säumten.
An jeder Haltestelle stiegen neue Fahrgäste ein und aus. Man aß oder schlief in den niedrigen, provisorisch zusammengezimmerten Stationen. Nicht jedoch Jessica und Wolfe. Er brachte ihr das Essen in die Kutsche, und dort schliefen sie auch. Wenigstens die Nacht zuvor hatten sie so einigermaßen ungestört verbringen können, da keiner der anderen Fahrgäste beschlossen hatte, die eisigen Nachtstunden mit ihnen zusammen in der Kutsche zu verbringen. Gegen Ende der langwierigen Fahrt kam Jessica sich so vor, als wäre sie in der holpernden, schaukelnden und klappernden Postkutsche geboren und würde auch genau dort sterben.
Sie hoffte inständig, daß dieser Moment nicht mehr lange auf sich warten ließ.
Erschöpft massierte sie ihren verspannten Nacken. Mit eiskalten Fingern löste sie ihr Haar und versuchte, es mit der Bürste wieder einigermaßen in Ordnung zu bringen. Wolfes bissige Bemerkungen darüber, daß sie nicht einmal dazu in der Lage war, sich allein die Haare zu kämmen, hatten sie tief getroffen; genauso wie sein Gelächter, als er entdeckte, daß sich ihr langer Zopf in ihrem Koffer verfangen hatte.
Als es Jessica endlich gelungen war, zwei ungleichmäßige Zöpfe zu flechten und sie aufgerollt am Kopf festzustecken, fing die Postkutsche bereits an, ihr Tempo zu verlangsamen. Unter lautem Fluchen und Geschrei zügelte der Kutscher die Pferde neben einem einfachen Schuppen, der nicht gerade
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