Im Sturm der Leidenschaft (German Edition)
Blutige Striemen zogen sich auch über seine Brust und seine Arme. Wild und zottelig hing ihm das Haar bis in die Stirn und verdeckte beinahe die schwarzen Augen, die wie Kohlen glühten. Seine Beine steckten in weiten Beinkleidern, die starr waren vor Schmutz, an den Füßen war er barfuß. Seine Begleiterin trug ein einfaches Gewand aus kratzigem, sackartigem Stoff, das in der Mitte nur von einem Kälberstrick gehalten wurde. Auf dem Rücken war das Gewand zerrissen und erlaubte den Blick auf rote Striemen, die sich beinahe über den ganzen Oberkörper zogen. Die Frau hatte ihr langes Haar straff am Kopf zusammengefasst und zu einem struppigen Schwanz gebunden. Ihre Augen waren rot unterlaufen und von dichten schwarzen Ringen umrahmt. Der schmale Mund war blutleer, das Gesicht von einer krankhaften graugelben Färbung. In der Hand hielt die Frau Kastagnetten. Auf ein Zeichen des Mannes begann sie, diese zu bewegen und dazu in endlosen Wiederholungen zu singen: »Gott der Herr wird kommen und Euch richten. Gott der Herr wird kommen und Euch richten.«
Ihre Stimme war so drängend, dass die Leute im Garten und Charlotta am Fenster gar nicht anders konnten, als ihre Tätigkeit zu unterbrechen und sich ganz dem seltsamen Paar zuwandten.
Als der Gesang abbrach, begann der Mann zu sprechen. Er schwenkte drohend seine Faust, als er mit dröhnender Stimme sprach: »Das Ende der Welt ist da, Brüder und Schwestern. Die Zeichen mehren sich. Verdammnis wird über das Land kommen und Euch, Eure Kinder und Eltern, Eure Freunde und Verwandten richten. Kälber mit zwei Köpfen werden geboren werden, Hunde werden nach ihren Herren beißen und die Fische nach Fäulnis und Verderben schmecken. Das Jüngste Gericht wird kommen, sobald sich der Herbst dem Ende neigt. Jetzt schreiben wir 1499, doch zu Beginn des Jahres 1500 wird die Welt zerfallen. Kriege werden das Land überschwemmen, die Söhne werden sich gegen die Väter richten und die Töchter gegen die Mütter. Die Ernte wird auf den Feldern faulen, das Schlachtvieh bei lebendigem Leib verwesen.«
Der Mann brach erschöpft ab und griff dankbar nach einem Becher Wasser, den eine Magd ihm reichte. Die Frau begann erneut mit ihrem seltsamen Singsang: »Gott der Herr wird kommen und Euch richten. Gott der Herr wird kommen und Euch richten.«
Doch bald hatte der Mann sich gestärkt und fuhr in seiner Rede fort. Wie gebannt standen die Bediensteten des Palazzo Alvarez herum, unfähig, den Blick von den Unglücksbringern zu wenden, unfähig, ihre Ohren vor den düsteren Prophezeiungen zu verschließen. Sie alle hatten schon von den unzähligen Gerüchten gehört, die wie Rabenschwärme über das Land flogen und das Ende der Welt am Ende des Jahres, welches gleichzeitig das Ende des Jahrhunderts war, verkündigten.
»Kehret um, meine Brüder und Schwestern«, beschwor der Mann mit brennenden Blicken und eindrucksvollen Gesten die Zuhörer. »Kehret um, sonst werdet auch Ihr gerichtet werden.«
Langsam ging er auf eine Magd zu, die sich zitternd bekreuzigte und den Fremden mit erschreckten Augen ansah.
»Hüte dich vor der Sünde«, donnerte der Mann und sprach die verschreckte Magd direkt an. »Halte deinen Leib rein, denn er gehört Gott. Du hast kein Recht, ihn zu verschenken. Hüte deine Tugend, sonst wirst du gerichtet.«
Bei diesen Worten war die Magd ganz rot geworden und warf sich jetzt schluchzend an die Brust der alten Köchin, die aus der Küche geeilt war, um zu sehen, was es draußen gab. Der Mann war schon weiter gegangen, hatte sich jetzt vor dem Gartenmeister aufgebaut. »Hüte dich vor dem Teufel, der in den Würfeln wohnt«, beschwor er den Mann, der vor Angst ebenfalls zu schlottern begann, dachte er doch, seine Spielleidenschaft wäre sein Geheimnis. »Bete nicht die Würfel an, sondern bete zu Gott.«
»Ja, Herr, ich bereue«, stammelte der Gartenmeister, doch der halbnackte Mann war weiter gezogen. Er stand nun direkt unter Charlottas Fenster und sah zu ihr herauf. »Hütet Euch, meine Schwester, vor der Lüge und dem Verrat«, rief er zu ihr hinauf. »So wie Ihr die Euren verratet, wird Gott Euch verraten. Noch ist es Zeit für die Umkehr. Zögert nicht, meine Schwester, der Herr wird die, die mit ihm sind, reich belohnen und vor dem Untergang bewahren.«
Auch Charlotta erschrak, als sie die Worte des Mannes hörte. Sie presste eine Hand auf ihr klopfendes Herz und versuchte vergeblich, sich zu trösten: »Ein Flagellant ist er nur, einer von den
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