Im Sturm der Leidenschaft (German Edition)
erst Euer Kleid anziehen? Es hing die ganze Nacht in der Nähe des Küchenfeuers und ist bestimmt inzwischen trocken.«
Charlotta sah an sich herab und bemerkte erst jetzt, dass sie ein fremdes Nachtgewand trug. Verwundert strich sie mit der Hand über den zierlich bestickten Rand des Stoffes.
»Es ist das Nachtgewand, das ich für meine eigene Hochzeit genäht und bestickt habe«, erklärte die Alte. »Doch mein Bräutigam ist kurz vor der Hochzeit im Meer ertrunken, so dass ich es nie getragen habe.«
Charlotta verstand, dass Mama Immaculada ihr das beste Stück, das sie besaß, angezogen hatte. Die liebevolle Zuwendung der alten Frau rührte sie. Und gleichzeitig war sie ihr dankbar. Hatte ihr auch Jorges das Leben gerettet, so war es doch die Wahrsagerin gewesen, die ihr einen Grund gegeben hatte, sich des neu geschenkten Lebens zu freuen und wieder voller Hoffnung zu sein.
Etwas anderes fiel Charlotta noch ein, als sie dieses Nachtgewand an sich sah. Etwas, das sie vorhin bereits gedacht hatte, aber nun, nach dem sie wusste, was in ihrer Hand geschrieben stand, eine andere Bedeutung erfahren hatte: Heute war der Tag, an dem sie mit Dom Pedro de Corvilhas den Tag ihrer Verlobung festlegen sollte!
Charlotta sprang aus dem Bett und lugte durch die geöffnete Tür in den Hauptwohnraum, in dem auch die Feuerstelle untergebracht war. Mama Immaculada war gerade dabei, das Kleid mit einem heißen Stein zu glätten. Ein Gedanke schoss Charlotta durch den Kopf: Wenn Vasco da Gama noch lebte, dann brauchte sie heute nicht mit Dom Pedro den Verlobungstag festzulegen! Doch gleich verwarf sie den Gedanken wieder. Das Schicksal nimmt seinen eigenen Lauf, lässt sich nicht betrügen. Mama Immaculada hatte ihr selbst die Nebenlinie in ihrer Hand gezeigt. Sie musste sich heute mit Dom Pedro treffen. So und nicht anders hatte es das Schicksal für sie bestimmt. Und wenn die Verlobung mit Dom Pedro der Preis dafür war, Vasco da Gama eines Tages wiederzusehen, so würde Charlotta diesen Preis mit Freuden zahlen.
Die alte Frau brachte das getrocknete Kleid und half Charlotta beim Anziehen.
»Ich weiß gar nicht, wie ich Euch danken kann, Mama Immaculada«, sagte Charlotta.
»Ihr braucht mir nicht zu danken, Doña. Ich habe nichts für Euch getan.«
»Habt Ihr denn keinen Wunsch, den ich Euch erfüllen könnte?«
»Nein, mein Kind. Ich bin alt und habe keine Wünsche mehr. Außerdem war es Jorges, der Euch gerettet hat.«
»Ruft ihn, Immaculada, ich bitte Euch.«
Die Alte nickte und rief nach ihrem Sohn. Gleich darauf klopfte es zaghaft an die Tür der kleinen Kammer. Ein junger Mann trat ein, jedoch so groß und vierschrötig wie ein Bär. Seine Haut war sonnenverbrannt und seine Hände zeigten rissige Wunden. Ein Geruch von Fisch verbreitete sich im Raum. Er war noch jung, ein Kind fast noch, vielleicht gerade 16 Jahre alt. Doch die schwere Arbeit eines Fischers hatte ihn schneller erwachsen werden lassen und seinen Körper schon längst in den eines Mannes verwandelt.
»Ich danke Euch, Jorges«, sagte Charlotta lächelnd und sah dem Mann, der nur wenige Jahre jünger war als sie selbst, gerade in die Augen.
»Fischer seid Ihr, nicht wahr? Gibt es einen Wunsch, den ich Euch erfüllen kann? Ein neues Boot vielleicht?«
Jorges schüttelte den Kopf. »Mein Boot ist in Ordnung. Gestern erst habe ich die Planken frisch mit Pech verschmiert. Nein, Doña Charlotta, ein neues Boot wünsche ich mir nicht.«
»Was wünscht Ihr dann, Jorges?«
Der junge Mann sah fragend zu seiner Mutter, die mit verschränkten Händen neben Charlotta stand, dann sagte er: »Einmal zur See fahren möchte ich, Doña de Alvarez. Einmal auf einer richtigen Karavelle neben Admiral Vasco da Gama stehen und mit ihm auf große Fahrt gehen.«
Doña Charlotta schwieg einen Augenblick lang, doch dann antwortete sie: »Wenn Vasco da Gama jemals wieder zur See fahren sollte, dann werdet Ihr neben ihm an der Reling stehen. Das verspreche ich Euch.«
Helle Aufregung herrschte im Palazzo de Alvarez, als Charlotta wenig später die große Halle betrat.
»Wo warst du? Wir haben nach dir gesucht!« Die Stimme ihres Vaters klang ärgerlich, doch dann zog er seine Tochter in die Arme und hielt sie ganz, ganz fest. Charlotta erschrak, als sie ihren Vater sah. Sein Gesicht war vor Erschöpfung ganz grau. Die Spuren einer in Angst und Sorge verbrachten Nacht ohne Schlaf waren als feine Linien und Falten deutlich zu sehen. Auch sein Haar schien noch weißer
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