Im Sturm der Leidenschaft (German Edition)
zahlreichen Ratten, die über den Boden huschten. Es hatte nicht lange gedauert, bis sich die garstigen Nager an die Anwesenheit von Menschen im Verlies gewöhnt hatten. Am ersten Tag waren sie in ihren Verstecken geblieben, am zweiten hatten die Mutigen einen kurzen Gang durch den Kerker gewagt, doch nun, am siebten Tag der Haft, hatten sie ihr Heim beinahe gänzlich zurückerobert. Wie lange würde es noch dauern, bis sie anfingen, am Fleisch der Gefangenen zu nagen? Vasco verfolgte den Weg eines besonders großen Rattenviehs, das aus einem Schlupfloch in der Wand kroch. Ohne Angst lief die Ratte durch das Verlies, verharrte kurz an der Stelle, an der die Gefangenen ihre Notdurft verrichteten, schnupperte an einer leeren Blechschüssel, in der am Morgen noch wässrige, fade Hafersuppe gewesen war, auf die sich Vasco und seine beiden Mitgefangenen trotz des üblen Geruchs und der Fäulnisspuren heißhungrig gestürzt hatten. Dann sah sich die Ratte um, stieß ein hohes Fiepen aus, das Vasco in den Ohren schmerzte, und lief furchtlos bis zu seinem Lager. Wenig später hörte er das Rascheln des Strohs, doch er war zu schwach, um sich zu erheben und das Tier zu verscheuchen. Stattdessen schloss er die Augen und wartete. Doch worauf eigentlich? Auf ein Wunder, dass ihm die Rückkehr in die Freiheit gestattete?
Nein, er glaubte nicht mehr daran, dass sich dieser ganze furchtbare Irrtum aufklären würde und er in Kürze erneut zu einer weiteren Expedition aufbrechen konnte. Jetzt wartete Vasco da Gama, Entdecker des Seeweges nach Indien, nur noch auf den Tod. Es war ihm gleichgültig, ob er von einem ordentlichen königlichen Gericht verurteilt und dann hingerichtet wurde oder ob der Tod ihn bereits hier im Verliesgewölbe des königlichen Palastes ereilen würde. Die Hauptsache war, es ginge schnell. Jede Stunde kostete ihn ungeheure Anstrengungen. Niemals hätte er geglaubt, dass nur eine einzige Woche ausreichte, um aus einem gesunden Mann ein menschliches Wrack zu machen. Alle Glieder taten ihm weh. Er litt Durst, hatte seit Tagen nichts als einen einzigen Becher stinkenden Wassers pro Tag getrunken, von dem er Magenkrämpfe und Durchfall bekam. Zwar rann die Feuchtigkeit hier an den Wänden herunter, doch es fehlte ihm an Kraft und Willensstärke, um sich aufzusetzen und das Nass mit der Zunge von der schimmeligen Wand zu lecken. Wozu sich noch anstrengen? Wozu sich mühen, das Leben zu verlängern? Er würde den Tod als Erlösung ansehen. Was sollte er noch auf dieser Erde? Er hatte alles verloren, was ihm je etwas bedeutet hatte: die Frau, die er mehr als alles andere liebte, den Ruhm und Erfolg als Kapitän, seine wenigen Freunde, seine Mannschaft, seine Familie. Verlassen von Gott und der Welt verharrte er nun in diesem Verlies und wartete auf den Tod. Er war ein Kämpfer gewesen, hatte allen Widerständen getrotzt, Stürme und Schiffbrüche überlebt. Die Liebe Charlottas war es, die ihm diese Kraft gegeben hatte. Nun, da er sie verloren hatte, war auch seine Kraft verschwunden. Es gab einfach nichts mehr, für das sich zu kämpfen lohnen würde.
Er bemerkte eine Berührung an seinem Arm und öffnete erneut die Augen. Die Ratte war ihm so nahe gekommen, dass ihre borstige Schnauze seinen Arm berührte. Er hob den Arm ein wenig und ließ ihn dann kraftlos zurück aufs Stroh sinken. Die Ratte verschwand. Heute noch. Doch bereits morgen würde sie so viel Mut gefasst haben, um sich durch ein einfaches Armheben nicht mehr verscheuchen zu lassen. Wie lange würde es noch dauern, bis sie anfinge, sich an seinem Fleisch gütlich zu tun? Er hatte von den zum Tode Verurteilten, die ihn nach Indien begleitet hatten, gehört, dass sie sich zuerst an die zarten Knöchel machten. Sie schlugen ihre spitzen Zähne dann in die Finger, die sie nacheinander bis auf den Knochen abnagten. Vasco stöhnte auf. Nie hätte er sich träumen lassen, einmal so zu enden.
»Vasco! Vasco, hörst du mich?«
Eine Stimme holte ihn aus seinen düsteren Gedanken zurück in die kalte, feuchte Gegenwart des Verlieses. Suleika kauerte neben ihm. Auch ihr Gesicht war fahl und grau, die vollen Lippen blutleer, die Augen ohne Glanz. Ihr Gewand starrte vor Schmutz. Sie legte ihm eine kühle Hand auf die fieberheiße Stirn und erschrak. Dann riss sie einen Streifen Stoff vom Saum ihres Gewandes, stand auf und benetzte den Stoff mit der Feuchtigkeit, die an den Wänden herunterrann. Vasco war dankbar für den feuchten Lappen, der seine heiße Stirn
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