Im Sturm erobert
Harmonie des Körperlichen und des Metaphysischen. Aus dem Nichts überfiel Beatrice die Erinnerung an Leos Kuß. Es waren fünf Tage vergangen seit der Nacht, in der er sie in seine Arme genommen hatte, aber immer noch löste die Erinnerung ein seltsames Kribbeln bei ihr aus.
Das Gefühl war gefährlich. Sie sagte sich noch einmal, daß ihn weder Leidenschaft noch Romantik dazu bewogen hatten, sie in jener Nacht so heftig zu küssen. Er hatte es aus Zorn getan. Außerdem hatte er eine große Menge Brandy zu sich genommen, um den Schmerz in seiner Schulter zu dämpfen. Sie wußte nur zu gut, daß Gentlemen sich manchmal auf starke Getränke verließen, wenn es darum ging, Verlangen zu wecken, wo keines existierte.
Außerdem hatte es auf der Reise nach London keine weiteren Küsse gegeben. Sie vermutete, daß er bedauerte, was zwi-schen ihnen beiden in jener Nacht in seiner Bibliothek vorgefallen war.
Nein, sie durfte nicht zuviel in eine Umarmung hineininterpretieren.
Am meisten machte ihr Sorgen, daß sie während jener glühenden Augenblicke in seinen Armen in einen Strudel von Gefühlen geraten war, der alles überschattete, was ihre Heldinnen je erlebt hatten.
Als sie Leo versichert hatte, sein Kuß wäre eine Inspiration gewesen, hatte sie ihm buchstäblich die Wahrheit gesagt. In ihrem nächsten Roman würde es keine höflichen, lauen Beschreibungen von Zuneigung mehr geben. Wenn in Zukunft eine ihrer Heldinnen einen der Helden küßte, würden Funken aus den Seiten sprühen. Das war eines der wunderbaren Dinge, wenn man Autorin war - keine Erfahrung wurde verschwendet.
Die Kritiker, die ihr vorwarfen, sie würde überspitzte und überhitzte Prosa schreiben, hatten überhaupt noch nichts gesehen, dachte sie. Die Kritiken ihres nächsten Buches würden sich zweifellos als sehr interessant erweisen.
»Na ja, ich denke, ich sollte wohl in den Salon gehen.« Winifred erhob sich. »Ich hab die beiden lang genug allein gelassen. Der richtige Zeitpunkt ist bei diesen Angelegenheiten von größter Bedeutung. Junge Leute müssen gerade solange allein sein, daß ihr Interesse gesteigert wird, aber nicht lange genug, um Langeweile zu erzeugen.«
Beatrice wartete, bis ihre Tante das Arbeitszimmer verlassen hatte, bevor sie den Brief, den sie erhalten hatte, entfaltete. Sie las ihn noch einmal, und Vorfreude durchflutete sie. Leo wäre sicher erstaunt über ihr Geschick. Der Gedanke, ihn zu beeindrucken, beflügelte sie.
Mrs. Cheslyn erschien erneut in der Tür. Diesmal war ihre strenge Miene noch starrer.
»Verzeihung, Ma’am«, brüllte sie. »Seine Lordschaft, der Earl von Monkcrest, ist hier, um Euch zu sehen.«
»Danke, Mrs. Cheslyn. Sie dürfen ihn hereinführen.«
»Er ist zwei Stunden zu früh dran, Mrs. Poole.«
»Führen Sie ihn bitte hier herein.«
»Mir wurde gesagt, er würde nicht vor fünf kommen.«
»Ja, ich weiß. Kein Grund zur Sorge, Mrs. Cheslyn.«
»Wie stellt Ihr Euch vor, daß ich diesen Haushalt führen soll, wenn dauernd unangemeldet Leute kommen und gehen?« »Ich sagte, ich werde seine Lordschaft jetzt empfangen.«
Leo tauchte hinter Mrs. Cheslyn auf. »Ich glaube, ich kann mich als angemessen avisiert betrachten.«
Mrs. Cheslyn drehte sich um und lugte zu ihm hoch. »Ah, da seid Ihr ja, Mylord. Ich wollte Euch gerade holen. Na ja, und nachdem Ihr ja zwei Stunden zu früh dran seid, werde ich noch ein Teetablett machen.«
»Danke.«
Leo trat in das Arbeitszimmer, während Mrs. Cheslyn sich in Richtung Küche entfernte.
Beatrice’ Herz machte bei seinem Anblick einen Satz. Sie hatte sich auf diesen Augenblick zwei Tage gefreut und war voller Neugier, ob er in der modischen Umgebung der Stadt irgendwie weniger faszinierend wäre als in der Wildnis Devons.
Sie sah sofort, daß er in zivilisierter Umgebung noch exotischer und aufregender wirkte.
Die Atmosphäre der Abtei paßte zu ihm. Das modern eingerichtete Stadthaus war dagegen nicht seine natürliche Umgebung. Es war, als hätte sie einen Wolf aus seinem felsigen, dunklen Bau in ihr fröhliches, sonniges Arbeitszimmer gebracht.
Sein Haar war lässig hinter die Ohren gekämmt, so daß betont wurde, daß es für die augenblickliche Mode etwas zu lang war. Seine weiße Krawatte war mit eleganter Schlichtheit gebunden, auf eine Art, die die komplizierten Gebilde der Dandys lächerlich erscheinen ließ. Es war klar, daß weder seine Reithosen noch sein exzellent geschnittenes Jackett irgendwelche Polsterung brauchten, um ihm
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