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Im Tal der bittersüßen Träume

Im Tal der bittersüßen Träume

Titel: Im Tal der bittersüßen Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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den verlassenen Häusern aus Felssteinen und Lehm, die Glocke läutete noch immer, er sah vor sich Menschen zur Kirche laufen, Fackeln in den Händen, Frauen in ihren langen Röcken, ihre Kinder an den Händen oder in einem Tragesack auf den Rücken geschnallt, und Männer, die Eisenstangen und Beile trugen, dicke Knüppel oder auch nur Säcke, mit Steinen gefüllt.
    Eine Wolke! Eine Wolke ist am Himmel! Hebt doch den Kopf, blickt doch einmal in den Himmel, der euch vernichtet hat! Nur ein einziger Blick!
    Eine Wolke! Die erste Wolke seit acht Monaten …
    Aber niemand blickte mehr in den Himmel. Sie haßten den Himmel. Sie dachten nur noch an das Wasser, das sie sich jetzt holen durften.
    Die Glocke rief sie dazu auf. Der Padre. Gott!
    Alles, was jetzt geschah, war Gottes Befehl und Gottes Wille.
    Wasser!
    Lagarto stolperte und fiel hin. Er schlug sich die Knie auf, zerschabte sein Gesicht auf dem rauhen Boden und blieb erschöpft, ausgepumpt, nach Luft ringend, liegen.
    Jack Paddy lag auf seinem Bett, die nackte Rosalie neben sich, und war zufrieden. Er trank einen großen Whisky, rauchte einen Zigarillo und kratzte sich die behaarte Brust. Sie ist ein Faß Wasser wert, dachte er. Wer hat gewußt, daß es in diesem dreckigen Santa Magdalena so ein hübsches junges Mädchen gibt? Es ist wie bei den Bazillen: Schmutz ist der beste Nährboden!
    Er drehte sich auf die Seite und musterte Rosalies Körper. Er war von Schweiß überglänzt, ein Zucken überlief ihn.
    »Ich schenke dir zwei Fässer voll!« sagte Paddy, trank sein Glas aus, zerdrückte den Zigarillo neben sich in einem tönernen Aschenbecher und wälzte sich wieder über Rosalie. Das Indiomädchen schwieg, es öffnete nicht die Augen, es biß die Zähne zusammen und ertrug die schwere Last des keuchenden Mannes. In ihrem Leib spürte sie nichts als das Bohren und Reißen der tödlichen Krankheit. Sie dachte an ihren Vater, die Mutter, die Geschwister und die Urmutter, die sie gesegnet hatten, und sie dachte an das Dorf Santa Magdalena, das sie jetzt durch ihren Leib von diesem Teufel von Mann befreien würde.
    Da schlang sie mit letzter Kraft die Arme um Paddys Nacken und zog ihn noch enger auf sich.
    Tod, dachte sie dabei. Ich bin der Tod, Señor Paddy. Du liebst deinen Tod.
    »Mein wilder Panther«, keuchte Paddy. »Du bleibst bei mir! Du bleibst immer bei mir! Das verspreche ich dir! Du verdammtes, kleines, braunes Aas …«
    Und Rosalie nickte, biß und kratzte und verseuchte ihn mit jedem Atemzug.
    Auf dem Platz vor der Kirche wogten die Fackeln.
    Man schleppte Kannen und Krüge heran, ausgehöhlte Flaschenmelonen und kleine Fässer. Ein paar noch kräftige Indios lagen wie Ochsen im Geschirr und zerrten auf drei Wagen die großen Langfässer heran, mit denen man früher die eigenen kargen Felder bewässerte und düngte. Die meisten Ochsen waren längst geschlachtet und verzehrt; die noch lebten, lagen als mit Fell bezogene Gerippe in den Ställen und warteten auf den Tod, bereits zu schwach, ihre Angst und ihre Qual hinauszubrüllen. Der Mensch war noch am kräftigsten, nicht weil er mehr trinken konnte als das Tier, sondern weil er einen Geist hatte, der ihm befahl: Du mußt leben! Du muß diese Sonne überstehen! Du darfst dich nicht vom großen Durst unterkriegen lassen! Einmal wird es wieder regnen. Gott wird nicht zulassen, daß die ganze Welt verbrennt!
    »Die Kraft der Intelligenz!« hatte Pater Felix einmal zu Dr. Högli beim Anblick der gebeugten Häupter der Gläubigen gesagt. »Ich gestehe es: Ich habe früher darüber gelächelt. Ja, blicken Sie mich nur nachdenklich an, ich war ein sehr aufsässiger Priester! Und ich bin es noch heute! Aber Santa Magdalena hat mich verwandelt – es wurde mein irdisches Fegefeuer! Ich habe eine ungeheure Hochachtung vor der verborgenen Stärke des Menschen bekommen, vor der Kraft, zu leiden und Leid zu überstehen.«
    Die Glocke läutete nicht mehr. Pater Felix kam aus der Kirche, hinter ihm sechs Meßdiener in Chorhemden und zwei Indios, die größten und stärksten des Dorfes. Sie trugen das große, hölzerne Kruzifix. Zwei andere Indios stützten es mit langen Stangen von hinten ab, damit der bunt bemalte Christus hochaufgerichtet stand und alle überblicken konnte.
    Die Fackeln schwankten und senkten sich. Alle knieten nieder und bekreuzigten sich. Sogar Dr. Högli, der neben der Kirchentür stand und wahrhaftig nicht viel vom ›christlichen Theater‹ – wie er es nannte – hielt; neigte den Kopf.

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