Im Tal der bittersüßen Träume
doch! Helft mir!«
Lagarto wollte Dr. Högli nachlaufen, aber plötzlich stand Evita vor ihm, er prallte gegen sie, sie schwankten beide und hielten sich gegenseitig fest.
»Laß ihn in Ruhe!« sagte sie kalt und schüttelte seine Hände ab. »Vater, laß Riccardo in Ruhe! Du wirst ihn nie verstehen!«
»Aber du verstehst ihn, was?« schrie Lagarto.
»Nein, ich verstehe ihn jetzt auch nicht.« Sie schüttelte den Kopf. Ihre Mundwinkel zuckten heftig. »Aber ich liebe ihn … Das ist die Hauptsache, Vater …«
Vom Hospital machten sich die ersten Indiogruppen zur Kirche auf. Die Wachen waren eingezogen, die Feuer rund um das Hospital loderten einsam, es gab nichts mehr zu schützen, es gab keine Ordnung mehr. In dieser Nacht verdurstete auch der Glaube an das Wunder. Die Glocke der Kirche würde gleich zum Sturm läuten – nicht mehr zum Gebet.
Dr. Högli rannte zu seinem Krankenhaus-Jeep. Pierre Porelle, nackt bis auf eine Badehose, mit gelblicher Salbe bedeckt wie ein Clown, humpelte auf Lagarto zu.
»Stimmt es, daß Paddy tot ist?« rief er.
»Noch nicht! Dieser wahnsinnige Arzt wird ihn retten!«
»Sie haben Paddy angeschossen?«
»Ich? Nein! Ich war zu feige dazu!« Lagartos aristokratisches Gesicht schien zu zerfallen. »Jetzt wollen sie das Haus stürmen, um Paddy zu retten! Ist so viel Irrsinn möglich?«
»Und Sie stehen herum und klagen den Mord an? Wo ist Ihr Wagen? Der da? Los, steigen Sie ein, Lagarto! Nehmen Sie mich mit! Wir werden schneller sein als alle anderen!« Porelle stieß Lagarto die Faust gegen die Brust. »Ich hatte Zeit genug, über alles nachzudenken! Das hier ist die Hölle, geleitet von einem Engel! Man muß das nur begreifen! Wir müssen vor den Indios bei Paddy sein!«
»Und dann?« fragte Lagarto. Er war wie gelähmt.
»Wir werden ins Haus hineinkommen, das schwöre ich Ihnen! Ich werde Paddy aus dem Bett holen!«
»Sie? In Ihrem Zustand?« Lagarto stieß die Wagentür auf. Porelle stieg ein. Im gleichen Augenblick gab er Lagarto einen Stoß mit dem Fuß, rutschte hinter das Steuer und drehte den Zündschlüssel herum. Der Motor heulte auf, der Wagen machte einen Satz, Lagarto sprang zur Seite, und mit offener Tür raste Porelle davon.
Lagarto war allein. Im Hospital lagen stumm die nicht gehfähigen Kranken, die verlassenen Feuer flackerten und knisterten, die Stille der Nacht war auf einmal erdrückend, und die Verlassenheit war so groß, daß Lagarto laut zu sprechen begann, um sich an seiner eigenen Stimme aufzurichten.
»Evita!« rief er in die Dunkelheit hinein. »Evita! Evita!«
Fern, jenseits des Dorfes, begann die Glocke zu läuten. Erbärmlicher Klang – erbärmlich wie alles hier. Eher eine Totenglocke als ein Aufruf, das Leben zu erstürmen.
Lagarto warf noch einen Blick auf das ›Hospital Henri Dunant‹. Offene Türen, offene Fenster, dahinter das schwache Schimmern der Notbeleuchtung. Die Feuer brannten schnell nieder, das Holz war so trocken, daß es zu Staub zerfiel, kaum daß es mit den Flammen in Berührung kam.
Er wandte sich ab, dann erstarrte er, sein Kopf flog in den Nacken. Im Norden, über der gezackten Felswand, hob sich im nächtlichen Himmel ein noch dunklerer, schmaler, langgezogener Streifen ab. Träge floß er in die Dunkelheit dahin, getrieben von einem kaum spürbaren Wind.
Eine Wolke!
Gott im Himmel – ist das eine Wolke?
Eine Wolke nach acht Monaten Sonne und Glut und einem unendlichen, weißblauen Himmel?
Lagarto begann zu rennen. Er rannte den Spuren im Staub nach, den Abdrücken der vielen Indiosohlen, den Reifenspuren der Jeeps. Er rannte dem Klang der Glocke entgegen, die zum verzweifelten Sturm rief und Santa Magdalena um die Kirche versammelte.
Alles, was gehen kann. Auch die Cholerakranken, die noch nicht wußten, daß sie die Cholera hatten! Holt euch das Wasser! Brecht euch den Weg frei zum Leben! Und wenn die Capatazos schießen, dann klettert über die Leichen eurer Brüder und Schwestern und weiter! Weiter. Es gibt keine unüberwindlichen Mauern, es gibt keine unbesiegbaren Gewehre! Nur ein einziges Tor trennt euch vom Wasser! Nur eine Bretterwand! Ist es jetzt nicht gleichgültig, wie man stirbt, ob am großen Durst oder durch eine Kugel oder mit der Cholera im Bauch?
Lagarto rannte wie ein Besessener. Er warf die Beine nach vorn, hatte den Mund weit aufgerissen, sein Atem röchelte, und als er die ersten Hütten des Dorfes erreichte, meinte er, seine Brust müsse zerplatzen. Aber er lief weiter, vorbei an
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