Im Tal der bittersüßen Träume
Anschein hatte. Das Problem hatte ihn die ganze Zeit über beschäftigt, von Paddys Anruf bis jetzt, wo er vor Porelle stand: Ich muß meinen Mörder retten! Mit der Gewißheit, daß Pierre Porelle nach seiner Gesundung mich umbringen wird, muß ich ihn bei mir aufnehmen, ihn pflegen und alles für ihn tun, was ein Arzt nur tun kann. Ich gebe ihm die Kraft zurück, wieder ein Unmensch zu sein!
Ist das zu verantworten? Geht ärztliches Ethos so weit? Muß ein Arzt ein so weites Gewissen haben – oder ein so enges, ganz, wie man die Sache sieht? Ist der Eid, der mich verpflichtet, allen Menschen zu helfen, so zwingend, daß man den Mörder seiner Frau und seines Freundes rettet?
»Ist das noch ein Mensch?« fragte Högli heiser.
»Sehen Sie ihn an! Hat er Ohren, eine Nase, zwei Arme, zwei Beine, zwei Füße? Finden Sie etwas, was ihn nicht zum Menschen macht?« Paddy trat ans Fenster. Er riß es auf und brüllte hinaus. »Macht ihnen das Faß voll! Aber nur das Faß! Wer beim Einfüllen trinkt, wird ausgepeitscht! Nur das Faß! Keinen Tropfen daneben.« Er kam zurück zur Couch, starrte Porelle an und winkte wie ein Feldherr, der eine Armee in die Schlacht schickt. »Ich halte mein Wort, Doktor! Also los!«
Högli beugte sich über den starren Porelle. Evita hatte eine Stelle am rechten Oberschenkel gefunden, wo zwischen zwei weit auseinanderstehenden Stacheln eine noch nicht entzündete Hautpartie frei war. Dr. Högli injizierte das Kreislaufmittel und warf dann die Spritze an die Wand. Mit einem scheppernden Laut zerplatzte sie. Paddy nagte an seiner breiten Unterlippe.
»Machen Sie das immer so?«
»Ich könnte diese Spritze nicht mehr anfassen!«
»So ein zartes Gemüt haben Sie? Ihr Liebster ist ein Seelchen, Miß Lagarto! Und so etwas will Santa Magdalena reformieren!« Paddy setzte sich und stemmte die Beine von sich. »Sie tun mir fast leid, Doktor.«
»Bitte, fangen Sie nicht an zu weinen, Paddy.«
»Wäre das so absurd? Meine Gegner: Ein fanatischer Pfaffe und ein armes Doktorherzchen! Da muß man doch weinen! Högli, wären Sie ein Kerl, der nicht mal mit der Nase wackelt, wenn ich ihm eine runterhaue, dann wäre das ein ehrlicher Kampf. Aber so? Ihre sogenannte Unbestechlichkeit ist doch nur Blödheit! Sie könnten Geld genug haben, in Frieden weiterleben, ich verspreche eine doppelte Wasserleitung für das Dorf mit Abzweigungen zum Pfarrhaus und zum Hospital, die Indios wären nach einem Jahr fett wie Mastkühe, dieses Höllental hier wäre ein Paradies … Sie brauchen nur die Schnauze zu halten!«
»Paddy, warum reden wir noch darüber?« Dr. Högli schloß seinen Arztkoffer. Porelles Atem ging kräftiger, seine bislang so starren Augen begannen zu flimmern. »Sorgen Sie dafür, daß Porelle sofort ins Hospital kommt. Noch kann ich ihn retten.«
»Er ist vor Ihnen da!« Paddy sprang auf. »Ich nehme an, Sie begleiten das Wasserfaß, damit ihm bloß nichts passiert.«
Von draußen hörte man Händeklatschen. Das Faß war voll Wasser, die Indios freuten sich wie kleine Kinder und tanzten um den Wagen herum. Für jeden einen Liter Wasser! O Madonna, du hast uns nicht vergessen!
»Wollen Sie nicht schwimmen?« fragte Paddy, als Dr. Högli und Evita durch die Halle gingen.
»Nein.«
»Und Sie, Miß Lagarto?«
»Wenn sich Gelegenheit bietet, Sie dabei zu ersäufen …«
»Doktor, was haben Sie bloß aus der feinen jungen Dame gemacht? Die ganze Erziehung ist hin! Fünfhundert Jahre spanische Tradition haben Sie zerstört! Ihr Vater wird entsetzt sein.«
»Mein Vater!« Evita blieb stehen. »Sie werden meinen Vater sehen, nicht wahr? Sie werden ihn sprechen? Wann?«
»Wie soll ich das wissen? Ich habe keinen Anlaß, Mr. Lagarto eine Nachricht zu geben. Ich habe ja auch keine von ihm bekommen. Aber es ist möglich, daß er anruft. Er wird sich Sorgen machen über meine Schweigsamkeit.«
»Sagen Sie meinem Vater …«
Paddy unterbrach sie mit einem Wedeln seiner großen Hände. »Ich werde ihm nichts sagen. Oder besser: Ich werde ihm sagen – wenn er fragt –, daß ich keinen Brief erhalten habe. Ist das die Wahrheit?«
»Sie werden ihm nicht sagen, daß ich in Santa Magdalena bin?«
Evitas Stimme wurde unsicher. Bis zu dieser Minute hatte sie geglaubt, ihre Anwesenheit könnte einen kleinen Schutz für Riccardo bedeuten. Sie hatte nie darüber gesprochen, auch mit Pater Felix nicht, weil sie wußte, daß jeder sie auslachen würde. Die Tochter des großen Lagarto von El Paso ist
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