Im Tal der bittersüßen Träume
den Doktor und den Padre unternehmen würde. Die Weißen – das wußte man – bevorzugten die Nacht für ihre Gemeinheiten. Aus dem Dunkel töten und im Dunkel verschwinden, das war typisch für die Feigheit dieser Hellhäute. Man hatte seine Erfahrungen, auf die man sich verlassen konnte.
Vor dem Eingang zur Ambulanz standen wieder die Kranken, aber es waren weniger als zuvor. Nur einige Mütter mit Kindern, deren vertrocknete Körperchen wie große bräunliche Papierknäuel aussahen. Geduldig warteten sie auf die Ausgabe des halben Liters Wasser. Matri und die Hilfsschwester waren noch damit beschäftigt, das abgekochte Wasser durch einen Filter laufen zu lassen, um es dann in einem Kühlschrank wenigstens so weit abzukühlen, daß man es lauwarm trinken konnte.
Aber auch das würde bald nicht mehr möglich sein – weder der Betrieb eines Kühlschrankes noch das Auskochen der Instrumente, noch überhaupt irgend etwas, das mit Elektrizität zu tun hatte. Das Stromaggregat lief zwar noch, aber es wurde mit Benzin getrieben. Der Vorrat in den Fässern reichte noch bis zu zehn Tagen, das hatte Dr. Högli errechnet. Was dann geschah, war kaum ausdenkbar. Mußte man sich umstellen auf das offene Feuer? Wie sollte man die Räume kühlen, wenn die Ventilatoren ausfielen? Kehrte man dann zurück zur Medizin der Urzeit?
Über Nacht hatte sich diese kritische Lage ergeben: Jack Paddy mußte außerhalb des Tales von Santa Magdalena nun auch die Stromzufuhr unterbrochen haben. Kein Telefon, kein Strom, eine gesperrte Straße, und über allem ein fast weißlicher, glühender Himmel, eine gewölbte Scheibe aus glutendem Metall.
»Es war nicht der Patron, der die Leitungen hat durchschneiden lassen, sondern der Fremde«, meldete man am frühen Morgen aus der Hacienda. Aber was nutzte dieses Wissen? Pater Felix hatte seine Kerzen und konnte die Glocke auch mit der Hand an einem Seil läuten. Für Dr. Högli aber war der Ausfall von Elektrizität eine echte Katastrophe, zumal in zehn Tagen auch sein Benzinvorrat erschöpft sein würde und selbst die Notaggregate schweigen müßten.
An all das dachte er jetzt, als er am Fenster stand und in den heißen Tag blickte. Hinter ihm raschelte Jorge Cuelva mit dem breiten Hut. Daß Evita schwieg, war fast noch schlimmer, als wenn sie ihn angefleht hätte, das Angebot der Capatazos anzunehmen. Weg aus dieser Hölle, und von draußen versuchen, für diese Menschen Hilfe zu holen – war das nicht eine Illusion? Eine fade Beruhigung des Gewissens? Ein Betrug angesichts der Tatsache, daß die Behörden in Chihuahua zwar versprechen würden, sich um alles zu kümmern, in Wahrheit aber nur Jack Paddy in Santa Magdalena anrufen würden. Und von dem würden sie die Auskunft bekommen: »Alles in Ordnung, Señores. Sie kennen doch Dr. Högli! Ein lieber Mensch, aber voller Übertreibungen! Von so schweizerischer Gründlichkeit, daß eine defekte Glühbirne gleich eine Katastrophe ist!« Man würde laut lachen, nach vielen freundlichen Worten auflegen – und nichts, aber auch gar nichts tun. Und Mexico City war weit; was die Behörden in Chihuahua für eine interne Angelegenheit hielten, interessierte in der Hauptstadt keinen Menschen.
»Du willst also weg, Evita?« fragte Dr. Högli, ohne sich umzuwenden. »Es ist wirklich das beste. Jorge wird dich in der Nacht aus dem Tal bringen.«
»Nicht ohne dich, das weißt du, Riccardo«, sagte sie. Ihre Stimme klang zwar mutig, aber der Unterton verbarg kaum die nackte Angst. Högli zog wie frierend die Schultern hoch. Es hatte keinen Zweck mehr, irgend etwas zu verschweigen oder zu beschönigen, Hoffnungen zu nähren, von billigen Illusionen zu leben. Mit jeder Stunde, die jetzt verrann, konnte die Situation in Santa Magdalena nur noch aussichtsloser werden.
»Wie kann ich jetzt weggehen?« sagte Dr. Högli heiser.
»Deine Kranken, nicht wahr? Dein Hospital? Die Lebensaufgabe des Arztes, immer zu helfen! Gilt das auch dann noch, wenn das eigene Leben dabei vor die Hunde geht?«
Dr. Högli senkte den Kopf. Sie hat schon etwas gelernt in Santa Magdalena, dachte er voll bitterem Sarkasmus. Sie spricht schon wie das gemeine Volk, an dem sie früher vorbeigefahren ist, ohne ihm einen Blick zu gönnen.
»Auch dann«, sagte er.
»Das ist doch Wahnsinn, Riccardo! Frage mich nicht, ob ich Angst habe! Natürlich habe ich Angst! Und du hast Angst, es vergeht keine Nacht, in der du nicht im Traum hochzuckst und um dich schlägst. Manchmal muß ich dich
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