Im Tal der bittersüßen Träume
ihren Kittel glitt und über ihre Brüste tastete, spürte er die Wärme ihres Körpers. Nur die Lippen waren wie mit Eis überzogen, es war, als habe sich alle Angst in sie verkrochen.
Sie stand unbeweglich, während seine Finger über ihre Brüste glitten. Nur als er wieder sprechen wollte, legte sie ihm eine Hand über den Mund.
»Die Visite, Riccardo«, sagte sie. »Sie warten auf dich.«
»Du brichst heute Nacht mit Cuelva aus«, sagte er und schob ihre Hand von seinem Mund. »Ich flehe dich an, Evita!«
»Wir werden heute nacht unsere Hochzeit vorbereiten.« Sie lachte, aber es klang wie ein erstickter Aufschrei. »Wie lange kennen wir uns, Riccardo?«
»Eine Ewigkeit. Drei Wochen.«
»Drei Wochen.« Sie drückte ihre Stirn gegen Höglis Stirn und schloß die Augen. »Was war vorher? Erzähl mir, was vorher war, Riccardo. Wo bin ich hergekommen? Wo wollte ich hin? Wer bin ich? Ich habe alles vergessen. Ich lebe nur noch in dir.«
»Bitte …« sagte Högli. Er riß sie an sich und legte die Arme um sie. Es war das erstemal, daß seine Stimme zerbrach. »Bitte, verlaß heute nach das Tal! Ich kann hier freier handeln, wenn du nicht mehr da bist.«
»Und einsamer sterben.«
»Nicht einsamer. Ruhiger!«
»Du schickst mich weg und weißt genau, daß es für immer ist!« Sie stieß sich von ihm ab und ordnete ihre heruntergefallenen Haare. Sie richtete das Band neu und knöpfte ihre Bluse unter dem Kittel zu. »Ich habe dir nicht erzählt, was die Lagartos sind.« Sie lächelte schwach. »Jetzt fällt es mir wieder ein. Ich bin eine Lagarto. Seit fünfhundert Jahren leben sie in Mexiko. Der erste Lagarto war einer der Eisenreiter, die unter dem Kommando von Cortez die Azteken besiegten und das Wunderland Mexiko für die spanische Majestät eroberten. Fünfhundert Jahre lang gab es keinen Lagarto, der Angst gehabt hätte. Welches Fieber dieses Land auch durchschüttelte, die Lagartos waren immer gesund! Sie überlebten jede Revolution, jeden Präsidentensturz, jeden Aufstand, jeden Staatsstreich. Sie gingen durch Blut und Tränen, und am Ende des Weges wuschen sie Blut und Tränen ab und lebten weiter, als sei nichts geschehen.«
»Hier gibt es kein Ende des Weges mehr, Evita! Ich, ich bin das Ende!« Er riß sie an den Schultern herum, als sie die Tür öffnete und das Zimmer verlassen wollte. »Hier hören fünfhundert Jahre Lagarto auf! Und es hat noch nicht einmal einen Sinn!«
»Du meinst: Für mich?«
»Ja.«
»Irrtum.« Sie befreite sich aus seinen Händen. »Nichts in diesen fünfhundert Jahren hatte so viel Sinn und war so wichtig wie meine Liebe zu dir! – Kann die Visite anfangen, Doktor?«
Dr. Högli nickte stumm. Es hat keinen Zweck, dachte er. Ich muß darüber mit Pater Felix sprechen. Es muß irgendwie verhindert werden, daß sie mit uns zugrunde geht. Es ist doch sinnlos, völlig sinnlos, sich zu opfern, nur weil man liebt! Der Gedanke allein reicht aus, um verrückt zu werden.
Im großen Krankensaal schlug ihnen die Ausdünstung von dreißig Menschen entgegen. Juan-Christo und seine Verlobte Matri warteten geduldig in der Mitte des breiten Ganges an einem Tisch, auf dem die Verbände, Medikamente, Spritzen und Ampullen aufgebaut waren. Wie in einem europäischen Krankenhaus waren auch an diesem Vormittag bei allen Kranken Puls und Temperatur gemessen und auf den am Ende der Betten hängenden Tabellen eingetragen worden.
Pierre Porelle saß in seinem Bett, mit entblößtem, eingepudertem Oberkörper. Die Schwellungen gingen zurück, die Antibiotika halfen, nur das wahnsinnige Jucken in den Einstichstellen der Kakteendornen konnte mit den vorhandenen Mitteln kaum gelindert werden. Dazu kam der Durst, den Porelle doppelt so stark in dieser dicken heißen Zimmerluft empfand, die gesättigt war mit Schweißgeruch, Eitergestank und dem beißenden Geruch verdunstenden Urins.
»Holen Sie mich hier raus!« rief er sofort, als Dr. Högli den Saal betrat. »Was Sie mit mir hier anstellen, ist langsamer Mord!«
»Ist er das?« Dr. Högli überblickte die Betten zu beiden Seiten des breiten Mittelganges. »Amigos, werdet ihr von mir ermordet?«
»No, Doktor!« riefen sie wie im Chor zurück. »Du bist unser Padre Riccardo!«
»Was wollen Sie, Monsieur Porelle?« Dr. Högli trat an das erste Bett. Dort lag die junge Indiofrau mit dem Kaiserschnitt. Ihr Mann saß neben ihrem Kopf auf den Dielen und hielt ihre herabhängende Hand. Das Kind war gesund, die Frau würde es auch werden. Mit
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