Im Tal der roten Sonne - Australien-Saga
der Menge.
»Dich ausgerechnet mit dem zu sehen, hätte ich nicht gerade erwartet.« Angie konnte ihren Kommentar nicht zurückhalten.
»Na und? Wir haben uns zufällig getroffen. Er hat mich eingeladen, einen Kaffee mit ihm trinken zu gehen, und ich habe das Angebot angenommen. Wir«, sie betrachtete ihre Hände und dann Angie, »wir haben eine Art Waffenstillstand vereinbart und uns darauf die Hand gegeben.«
»Einen Waffenstillstand?« »Ja. Er möchte, dass wir Freunde sind.« Carla rollte mit den Augen, als Angie sie zweifelnd ansah. »Ich weiß. Vielleicht führt er etwas im Schilde, aber«, sie dachte kurz nach, »das glaube ich nicht. Ich denke, dass er es ehrlich meint.«
»Nun, das ist dann ja eine interessante Entwicklung«, räumte Angie ein. Sie nahm einen Schluck Kaffee, bevor sie ergänzte: »Mit der Zeit wird es sich zeigen, ob es ihm tatsächlich ernst ist mit dem Waffenstillstand.«
16
I n seinem luxuriös eingerichteten Büro auf Rhein-Schloss öffnete Carl Stenmark die oberste rechte Schublade seines Schreibtisches und zog eine mehrere Wochen alte Kopie der Gemeindezeitung Barossa and Light Herald daraus hervor. Er schlug Seite vier auf, setzte seine Brille auf und starrte auf den Artikel. Die Seite hatte vom vielen Lesen schon Eselsohren. Er kannte den Artikel über die Verleihung der Goldmedaille an Carla bereits auswendig.
Seine blauen Augen verengten sich zu Schlitzen, und die
Falten auf seiner Stirn verstärkten sich, während er das Farbfoto von Angie, der Winzerin, und Carla betrachtete. Er blinzelte, dann wandte er seinen Blick ab. Sie war genau wie Anna Louise. Die Ähnlichkeit mit seiner vor langer Zeit verstorbenen Frau war erstaunlich. Die Erinnerung an Anna Louise machte ihn zutiefst melancholisch. Er konnte seinen Blick nicht vom Foto abwenden. Widerstrebend musste er zugeben, dass sie auch Rolfe etwas ähnelte - die gerade Nase und die starke Kieferpartie waren typisch für die Stenmarks. Mit dem Zeigefinger umfuhr er die Umrisse seiner Enkelin und betrachtete ihre Augen. Genau wie seine waren sie von einem klaren Blau. Ihre vollen Lippen hatte sie wahrscheinlich von ihrer italienischen Mutter.
Er hatte sie nur einmal gesehen, und zwar in dem Restaurant. Aber seitdem war sie von Zeit zu Zeit in seinen Träumen herumgegeistert und hatte ihn auch tagsüber nicht losgelassen. Obwohl er sich dagegen wehrte, musste er leider allzu oft an seine Enkelin denken. Missmutig schüttelte er sein Haupt mit dem dichten weißen Haar. Auch weiterhin versetzte sie alle in Erstaunen, und auf ihre eigene Art und Weise konfrontierte sie ihn ständig, weil sie einfach im Valley blieb. Er gab einen knurrenden Laut von sich und trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch. An ihrer Charakterstärke und ihrer Entschlossenheit bestand keinerlei Zweifel. Sie standen in ihrem Gesicht geschrieben. Carla war genauso starrköpfig wie Anna Louise und sein jüngerer Sohn, an den er, selbst jetzt, nicht denken mochte.
Wenn er an Rolfe dachte, litt er wieder an der Enttäuschung, an dem Schmerz des Verlustes seines Lieblingssohnes. Er war alt genug, um zuzugeben, wenn auch nur sich selbst gegenüber, dass Kurt sein Liebling gewesen war - der Sohn, der dazu bestimmt war, sein Nachfolger zu
werden. Anna Louise hatte ihm oft Vorwürfe gemacht, dass er seinen ältesten Sohn, der leichter zugänglich war, dem jüngeren vorzog. Vielleicht hatte sie recht gehabt. Wenn er nicht so parteiisch gewesen wäre, wäre alles anders gekommen.
Wenn . Ein kleines Wort, das er von Herzen verabscheute. Wenn er beide Söhne gleich behandelt hätte, wenn Rolfe zugegeben hätte, dass er Marta verführt hatte, wenn Kurt nicht wie ein Verrückter gefahren wäre … pah! ›Wenn‹ veränderte gar nichts. Verärgert über sich selbst, schlug er die Zeitung zu und faltete sie zusammen. Er schaute auf den Papierkorb, der neben seinem Schreibtisch stand. Irgendetwas hinderte ihn daran, die Zeitung wegzuwerfen.
Er konzentrierte seine Gedanken auf Luke. Gott sei Dank gab es seinen Enkel. Luke war ein würdiger Anwärter und würde eines Tages Rhein-Schloss übernehmen, möglicherweise in nicht allzu ferner Zukunft. Carl hatte Arthritis. Er war ständig müde und spürte seine dreiundachtzig Jahre mit jedem Tag, der verging. Lisel war als Nachfolgerin gänzlich ungeeignet. Mit ihren ständig wechselnden Launen, ihrer Unfähigkeit, länger mit einem Mann zusammen zu sein, und angesichts der Tatsache, dass sie schon über vierzig war,
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