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Im Tal der Schmetterlinge

Titel: Im Tal der Schmetterlinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gail Anderson-Dargatz
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angewidert als hässliche Frucht. Die Dinger sind doch ein Witz , sagte sie. Die wachsen paarweise auf Bäumen,
wie Hoden . Wir verfüttern sie an Schweine. Sie stellte die Schüssel mit warmem Wasser und den Waschlappen neben Ezras Bett ab, und sobald sie verschwunden war, zog ich die Vorhänge um uns zu. Die Sonne, die durch die Fenster schien, ließ den Vorhangstoff aufleuchten, regelrecht erglühen. Ich hatte das Gefühl, vollkommen allein in diesem vom Mittagslicht erfüllten Zimmer zu sein, als wäre Ezra nicht mehr unter uns und als würde ich den toten Körper meines geliebten Ehemannes waschen. Sanft glitt ich mit dem Lappen über seine fast völlig unbehaarte Brust, die weiche Haut seines Bauchs, und wusch die seidige, unschuldige Stelle zwischen seinen Oberschenkeln und dem Hodensack, den ich anhob, um ihn auch darunter zu waschen. Ich prägte mir jede Einzelheit seiner Haut ein, verinnerlichte sie, als berührte ich Ezra ein letztes Mal.
    Das war keine bloße Erinnerung. Ich war dort , in dem Krankenhauszimmer in Chilliwack. Ich konnte das warme Wasser und den rauen Stoff des Waschlappens in meiner Hand spüren, als ich ihn auswrang.
    Dann war ich wieder hier, in der Notaufnahme in Salmon Arm, eingeschlossen von Vorhängen, neben dem Bett meines Vaters. Für einen kurzen Moment fühlte ich mich betäubt. Wie war ich hierhergekommen? Wie konnte derart viel Zeit verstrichen sein? Was hatte ich die ganze Zeit über getan?
    Meine Mutter warf die schmutzigen Papierhandtücher in den Mülleimer, reinigte ihre Hände mit einem antiseptischen Tuch und setzte sich auf einen der orangefarbenen Plastikstühle, wobei sie den Griff ihrer Handtasche mit beiden Fäusten fest umklammerte. Ezra lehnte gegen die Wand neben ihr und hielt Jeremy im Arm.
    »Mir ist langweilig«, sagte Jeremy.
    »Ich weiß«, sagte ich. »Wir müssen uns wohl noch ein bisschen
länger gedulden.« Ich kramte in meiner Tasche und reichte ihm das kleine Büchlein, das ich immer für Notfälle dabeihatte, falls wir warten mussten.
    Mein Vater wurde an einen Herzmonitor angeschlossen. In diesem Augenblick fiel mir auf, dass ich ihn bisher nur sehr selten ohne Hemd gesehen hatte. Er war nie schwimmen gegangen oder hatte an heißen Tagen das Oberteil ausgezogen, wie andere Männer das gern taten. Wenn er die Arbeitskleidung, die er auf der Farm trug, gegen ein sauberes Hemd und gute Hosen für die Stadt eintauschte, dann geschah das immer hinter der geschlossenen Tür des Elternschlafzimmers. Die Haut seiner Brust und der Oberarme, die in all den Jahren nie der Sonne ausgesetzt gewesen war, wirkte erschreckend weiß und jugendlich, als wären sein alter Kopf, die alten Hände und Unterarme an einen jungen Körper geschraubt worden. Seine Brustwarzen waren winzig, lediglich kleine Punkte. Seinen linken Arm überzog eine große Narbe. Die Haut ringsherum kräuselte sich bei jeder Bewegung.
    »Die Narbe stammt von einem Jagdunfall, nicht wahr, Dad?«
    »Ich habe im Geräteschuppen mein Gewehr gereinigt, da ließ ich es fallen, und es ging los.«
    »Bumm!«, rief Jeremy.
    Ich warf ihm einen tadelnden Blick zu und drehte mich wieder zu meinem Vater um. »Bist du mit der Waffe nicht über einen Zaun gestiegen, als sich der Schuss löste?«
    Er sah zu meiner Mutter. »Ja, natürlich, so war’s.«
    Ich ließ die Geschichte auf sich beruhen. In dem Gesicht meines Vaters war so viel Schmerz zu lesen. Er wand sich und atmete röchelnd aus. »Ich verstehe nicht, warum es so weh tut«, keuchte er.
    »Das muss es nicht«, sagte Ezra und reichte mir Jeremy, bevor
er hinter dem Vorhang verschwand. »Ich bin sofort wieder da.«
    »Wohin geht Daddy?«
    »Das weiß ich nicht, mein Spatz. Er kommt sicher gleich zurück.« Ich gab ihm mein Notizbuch und einen Stift. »Hier, mal Mommy ein Bild.«
    Meine Mutter kramte ihren Schreibblock hervor. »Habe ich etwas getan, das ihn beleidigt haben könnte?«
    »Ezra? Nein. Wieso?«
    »Er war heute Morgen so wütend auf Jeremy, als der Kleine sein Glas auf den Tisch geknallt hat, um mehr Limonade zu kriegen. Das war doch heute Morgen, nicht wahr?«
    Ich nickte.
    »Ich dachte, ich habe vielleicht etwas getan, das ihn verärgert hat. Und dass er es dann an Jeremy ausgelassen hat.«
    »Er war nicht sauer auf dich und ebenso wenig auf Jeremy. Er war einfach von der ganzen Situation überfordert.« Womöglich hatte er die Wut, die er an den Tag gelegt hatte, nicht einmal selbst bemerkt. Der Psychologe, mit dem ich im Krankenhaus nach

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