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Im Tal der Schmetterlinge

Titel: Im Tal der Schmetterlinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gail Anderson-Dargatz
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meiner Mutter mit einem Rollstuhl. Als die Krankenschwester und ich meinem Vater aus dem Bett halfen, gaben seine Knie unter ihm nach, und er wäre beinahe gestürzt. Er verzog das Gesicht und hielt sich die Rippen, während er sich grunzend und stöhnend in den Rollstuhl sinken ließ.
    »Sie können ihn begleiten, wenn Sie wollen«, schlug die Krankenschwester meiner Mutter vor.
    »Hätte nie gedacht, dass man mich mal in einem dieser Dinger herumkarren würde.«
    »Stell dir einfach vor, du bist in einem Spa«, riet ich ihm. »Mit wunderschönen Frauen, die dich schieben.«
    »Das ist doch nichts Neues.« Er streckte die Hand nach meiner Mutter aus, während die Krankenschwester ihn davonrollte.
    »Ich habe Hunger«, sagte Jeremy.
    Ezra setzte ihn ab und nahm seine Hand. »Ich bringe ihn zur Cafeteria.«

    Kopfschüttelnd sah ich ihnen nach. Dann war ich allein in der kleinen abgetrennten Kabine, eingeschlossen von Vorhängen, und starrte auf das leere Krankenhausbett. Das eingedrückte Kissen, in dem noch der Kopfabdruck meines Vaters zu sehen war. Das Poster, das besagte, dass dies eine parfümfreie Zone war. Die türkisfarbene Urinflasche auf dem Beistelltisch, bei der es sich genauso gut um eine Vase hätte handeln können, die nur auf einen fröhlichen Strauß Narzissen wartete - wäre da nicht der verräterische Griff gewesen. Nach Ezras Schlaganfall, während seiner ersten Woche im Krankenhaus, hatte ihn derartiges Heimweh gepackt, dass er eine dieser Urinflaschen überstreifen wollte, im Irrglauben, es sei sein Schuh. Später lachten wir darüber, weil er die beiden Körperteile verwechselt hatte. Immerhin trug er Schuhgröße 47.
    Damals redete er schon wieder in ganzen Sätzen, doch seine Aussprache war undeutlich und die Wortwahl eigentümlich. Er zeigte auf sein rechtes Bein und sagte: »Meine Haut fühlt sich wie Messing an«, um die Taubheit dort zu erklären. Wenn ich ihn fragte, wie mein Name lautete, sagte er: »Samtblume!« Es war wundervoll, von seinem Geliebten als Blume beschrieben zu werden. Und in seinen Augen blitzte ein Wiedererkennen auf. Selbst an seinen dunkelsten Tagen, wenn er meinen Namen nicht mehr kannte, wusste er doch, wer ich war. Oder besser gesagt, er wusste, dass wir eine glückliche Beziehung führten, Mann und Frau waren.
    Die Krankenschwestern banden Ezra damals nachts ans Bett, damit ich zum Schlafen nach Hause konnte und sie nicht ständig überwachen mussten, ob er schlafwandelte. Doch immer fand er einen Weg aus seinem Gefängnis, zerrte an den Knoten unter dem Bett, und noch bevor ich die Station verlassen hatte und mich ein letztes Mal umdrehte, sah ich ihn in
diesem lächerlichen kurzen Kittel aus der Tür seines Einzelzimmers kommen, den Infusionsständer hinter sich herziehend. Früher am Abend, als ich ihn fragte, ob er wisse, wo er sich befand, murmelte er, er schlafe auf der Waschmaschine und dem Trockner zu Hause und habe die Beine wundersamerweise durch die Wand hindurchgestreckt, und dennoch konnte er sich in diesem traumhaften Zustand aus dem Bett hieven und den Korridor entlangtorkeln, wobei irgendein Teil von ihm instinktiv wusste, dass der Infusionsständer notwendig war.
    Ich schritt den Krankenhausflur hinab, als eine Krankenschwester Ezra aufhielt und in einen Rollstuhl setzte. Sie band ihn auch dort fest, wie man ein Kleinkind in einem Kinderwagen anschnallt, und schob ihn an eine Stelle genau gegenüber des Schwesternzimmers, so dass ihn alle im Auge behalten konnten.
    Ich hockte mich vor den Rollstuhl und redete leise auf ihn ein, in der Hoffnung, ihn beruhigen zu können, bevor ich nach Hause fuhr. Doch er warf mir nur ein anzügliches Lächeln zu. Nicht anders als so viele betrunkene Männer verlor auch Ezra während seiner Krankheit alle Hemmungen - wie Luftballons, die vom Wind davongeweht werden. Er schmiegte sich an mich, küsste meinen Hals, zog an den Ärmeln meines Pullovers und begann mich im fluoreszierenden Licht der Intensivstation des Chilliwack General Hospital zu entkleiden.
    Obwohl mich sein Verhalten in Verlegenheit brachte, wollte ich ihn, wollte ein Kind von ihm. Ich wollte diesen Nachhall seiner selbst. In jenem Augenblick verstand ich meine Bekannte, die mir einmal erzählt hatte, wie sie gleich im Anschluss an die Beerdigung ihrer Mutter nach Hause geeilt war und dort auf der Stelle mit ihrem Mann geschlafen hatte. Sie
hatten es nur bis zum Wohnzimmerteppich geschafft. Ein Nachbar war mit einem Auflauf vorbeigekommen und hatte

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